Zum Tode Helmut Kohls

Deutschland, in grauer Vorzeit. Dr. K. hat eben seine erste Bundestagswahl gewonnen. Es sind die Jahre der Geistig-Moralischen Wende (von anderen Wenden noch keine Spur). Nun hat er sich nach Göttingen gewagt, in die selbsternannte Hauptstadt des Aufruhrs. Vor der Stadthalle wogt der Widerstand. Kohl wird nicht nur politisch abgelehnt, sondern als Ganzes, als – auch ästhetisches – Projekt. Seine Sprache, seine Massivität, sein Brillengestell. Er steht für alles, was nicht sein darf. Kohl fühlt sich, um es für die Nachgeborenen zu sagen, an wie Trump. Alle Welt erwartet den Atomkrieg spätestens nächste Woche. Am Rande der Demonstration ein Junge. Auch er in geborgter Entrüstung, gestählt von felsenfesten Überzeugungen, eine davon die Sicherheit, dass dieser Kanzler sich nicht lange halten wird (noch ahnt er nicht, dass es möglich ist, während einer kompletten Lehrzeit aus Schule und Studium nur von Helmuts regiert zu werden). Der Junge hält sich für besonders clever: Anders als die Protestler ist er nicht in der Alltagsuniform der Achtziger gekommen, sondern trägt stattdessen Camouflage, einen Tarnanzug, der in diesem Fall tatsächlich ein Anzug ist, wenn auch ein schlecht sitzender, er hat ihn in Ermangelung eines eigenen heimlich vom Vater geborgt. So verkleidet gelingt es ihm, mit dem Presseausweis seiner Schülerzeitung an den Ordnern vorbei ins Innere der Halle zu gelangen.
Kohls Rede ist emotional. Der Kanzler musste sich seinen Weg durch die Widersacher bahnen, nun ist er aufgebracht, was seiner Artikulation nicht guttut. Er beschwert sich über den Protest, er stammelt »Mob!« Der Junge lehnt an einer Säule, er ruht in seiner Überlegenheit. Von vorne ruft Kohl: »Ich habe den Hass in den Gesichtern gesehen« – und das ist der Moment, da der Junge zur Tat schreitet. Er will ein Zeichen setzen, mitten in der Meinungskonformität der Halle will er Advokat der Résistance sein. Selbstbild: Mahatma-Galileo Luther King. Also fällt er dem Kanzler ins Wort und für einen Moment ist die Halle tatsächlich still.
Was er gerufen hat? Er wünschte sich, es noch zu erinnern, und er hofft, es wäre nicht allzu platt gewesen, nicht gleich dauerhafter als Erz, aber zumindest halbwegs brauchbar. Irgendetwas wie »Der Hass liegt im Auge des Betrachters« oder ein mit voller, lauter Stimme vorgetragenes »J’accuse«.
Stattdessen wird es wahrscheinlich nur etwas wie ein stimmbruchkrächzendes »Nein!« gewesen sein, aber der Kanzler hält tatsächlich inne, alle Köpfe wenden sich zu dem Jungen um, und bevor er weiterrufen kann, spürt er schon eine schwere Hand auf seiner Schulter. Er erwartet Ordner, die ihn hinaustragen, und macht sich zur Gegenwehr bereit. Stattdessen ist es ein freundlicher Herr, der sich als »Süßmuth« vorstellt und ihn in ein Gespräch verwickelt, während vorne die Veranstaltung unbeeindruckt weiterläuft. Bald kommt auch seine Frau dazu, Rita. Sie reden lange, kontrovers, aber auch die andere Seite verfügt, das muss der Junge zugeben, über Argumente. Und selbst wenn er es am Abend seinem Tagebuch gegenüber nicht eingestehen kann, ist er doch beeindruckt von der Lässigkeit, mit der die Bundesrepublik die Energie seiner kleinen Revolte aufgenommen, gebremst und freundlich gegen ihn gewandt hat, im zeitlos-weisen Stil eines Kung-Fu-Kämpfers.