Autor: Jo Lendle (Seite 6 von 25)

Der Koch, die Liebe und die Handlungsreisenden

Nach dem ersten vollen Tag der Vertretersitzung wanken wir nachts aus dem kleinen Restaurant, erfüllt und berauscht von der Aussicht auf die neuen Bücher, von der generellen Unentbehrlichkeit der Literatur und zudem vom guten Essen, da lehnt draußen am Mäuerchen der Koch und raucht und fragt, was wir denn eigentlich für ein komischer Haufen seien, und als wir es ihm sagen, ist er überrascht, wir seien so laut und aufgekratzt, er hielt uns für einen Gesangsverein. Er selbst, fährt er fort, zieht an seiner Zigarette und lacht, habe übrigens noch nie ein Buch gelesen.

In Wien

Herrliches Wien: Wo sonst gibt es Bücher, deren Titel in jedem Wort ein Ypsilon enthält? Und, was soll’s, der Autor auch. In Vor- und Nachname! Und, weil es jetzt schon nicht mehr drauf ankommt, obendrein noch der Verlag.

Kunst etc.

Auf dem Fußgängersteg an der Isar sitzt unter den Bögen der Maximiliansbrücke ein Mann mit Hut und Sonnenbrille und spielt auf seiner Gitarre. Er hat einen tragbaren Verstärker dabei und ein Mikrofon, er singt sehr laut, obwohl keiner da ist, der ihn hört, es ist Nacht und zu kalt und der Fluss übertönt mit seinem Rauschen dann doch das meiste. Man denkt an Demosthenes, der seine Stimme kräftigte, indem er gegen die Meereswellen anredete, den Mund mit Kieseln gefüllt. Aber der hier redet nicht, er singt einfach und berauscht sich am Hall unter den Brückenbögen und auf einmal wieder die Frage, ob Kunst ein Publikum braucht, um Kunst zu sein.

Zum Tode Helmut Kohls

Deutschland, in grauer Vorzeit. Dr. K. hat eben seine erste Bundestagswahl gewonnen. Es sind die Jahre der Geistig-Moralischen Wende (von anderen Wenden noch keine Spur). Nun hat er sich nach Göttingen gewagt, in die selbsternannte Hauptstadt des Aufruhrs. Vor der Stadthalle wogt der Widerstand. Kohl wird nicht nur politisch abgelehnt, sondern als Ganzes, als – auch ästhetisches – Projekt. Seine Sprache, seine Massivität, sein Brillengestell. Er steht für alles, was nicht sein darf. Kohl fühlt sich, um es für die Nachgeborenen zu sagen, an wie Trump. Alle Welt erwartet den Atomkrieg spätestens nächste Woche. Am Rande der Demonstration ein Junge. Auch er in geborgter Entrüstung, gestählt von felsenfesten Überzeugungen, eine davon die Sicherheit, dass dieser Kanzler sich nicht lange halten wird (noch ahnt er nicht, dass es möglich ist, während einer kompletten Lehrzeit aus Schule und Studium nur von Helmuts regiert zu werden). Der Junge hält sich für besonders clever: Anders als die Protestler ist er nicht in der Alltagsuniform der Achtziger gekommen, sondern trägt stattdessen Camouflage, einen Tarnanzug, der in diesem Fall tatsächlich ein Anzug ist, wenn auch ein schlecht sitzender, er hat ihn in Ermangelung eines eigenen heimlich vom Vater geborgt. So verkleidet gelingt es ihm, mit dem Presseausweis seiner Schülerzeitung an den Ordnern vorbei ins Innere der Halle zu gelangen.
Kohls Rede ist emotional. Der Kanzler musste sich seinen Weg durch die Widersacher bahnen, nun ist er aufgebracht, was seiner Artikulation nicht guttut. Er beschwert sich über den Protest, er stammelt »Mob!« Der Junge lehnt an einer Säule, er ruht in seiner Überlegenheit. Von vorne ruft Kohl: »Ich habe den Hass in den Gesichtern gesehen« – und das ist der Moment, da der Junge zur Tat schreitet. Er will ein Zeichen setzen, mitten in der Meinungskonformität der Halle will er Advokat der Résistance sein. Selbstbild: Mahatma-Galileo Luther King. Also fällt er dem Kanzler ins Wort und für einen Moment ist die Halle tatsächlich still.
Was er gerufen hat? Er wünschte sich, es noch zu erinnern, und er hofft, es wäre nicht allzu platt gewesen, nicht gleich dauerhafter als Erz, aber zumindest halbwegs brauchbar. Irgendetwas wie »Der Hass liegt im Auge des Betrachters« oder ein mit voller, lauter Stimme vorgetragenes »J’accuse«.
Stattdessen wird es wahrscheinlich nur etwas wie ein stimmbruchkrächzendes »Nein!« gewesen sein, aber der Kanzler hält tatsächlich inne, alle Köpfe wenden sich zu dem Jungen um, und bevor er weiterrufen kann, spürt er schon eine schwere Hand auf seiner Schulter. Er erwartet Ordner, die ihn hinaustragen, und macht sich zur Gegenwehr bereit. Stattdessen ist es ein freundlicher Herr, der sich als »Süßmuth« vorstellt und ihn in ein Gespräch verwickelt, während vorne die Veranstaltung unbeeindruckt weiterläuft. Bald kommt auch seine Frau dazu, Rita. Sie reden lange, kontrovers, aber auch die andere Seite verfügt, das muss der Junge zugeben, über Argumente. Und selbst wenn er es am Abend seinem Tagebuch gegenüber nicht eingestehen kann, ist er doch beeindruckt von der Lässigkeit, mit der die Bundesrepublik die Energie seiner kleinen Revolte aufgenommen, gebremst und freundlich gegen ihn gewandt hat, im zeitlos-weisen Stil eines Kung-Fu-Kämpfers.

Wünschten Sie manchmal, ein anderer zu sein?

Und dann war da noch Alison Reynolds, die Königin der Fiktionalität. Ihr Lebenstraum: Schriftstellerin. Sie behauptete, die Zwillingstöchter des Dichters T.S. Eliot zu sein. Claire und Chess Eliot, mal war sie die eine, mal die andere. Mit Perücken, Schminke und Kostümen nahm sie über die Jahre elf verschiedene Identitäten an, manche Zeitungen sprechen sogar von 35. Alison Reynolds eröffnete Theaterkompanien, schrieb ein Drama über eine Frau, die sich als Hollywoodproduzentin ausgibt, strich Fördergelder ein. Um ein Stipendium zu bekommen, verwandelte sie sich kurzzeitig in ein Mitglied der Kommission und bewilligte es sich selbst. Nie sah man Claire und Chess zusammen, das wurde den beiden am Ende zum Verhängnis. Als Alison Reynolds ins Gefängnis ging, hatte sie mehr als 120.000 Britische Pfund erschwindelt.

Verstörend: Die Geschichte ist wahr. Noch verstörender: T.S. Eliot hatte gar keine Kinder.

Streets of London

Wer nachts in London landet, mag sich fragen, ob er nicht rasch mit einem dieser Autos in die Stadt reinfährt, die heutzutage überall herumparken wie Stundenhotels der Mobilität. DriveNow, Car2go und so weiter. Meine Antwort wäre: Kann man machen. Der Name City Airport deutet an, wie zentral man gelandet ist: In die Stadt ist es ein sogenannter Katzensprung, vier, fünf Meilen die Themse hoch, kaum eine Viertelstunde und als Selbstfahrer günstiger als jede Alternative, vom Schwimmen abgesehen. Man steigt ein, über hohe Stadtautobahnbrücken geht es vorbei an der hell erleuchteten Canary Wharf durchs Hupen & Brausen von Swinging London – fast fühlt es sich an wie Ferien und tatsächlich ertappt man sich dabei, beim Fahren leise zu summen. Wie jeder Urlaub allerdings ist auch dieser viel zu schnell vorbei. Schon passiert man das Hotel, dreht einige Schleifen und findet am Ende tatsächlich einen Parkplatz.
Leider meldet das Fahrzeug, es befinde sich außerhalb des Geschäftsgebiets. Nach einigen anregenden Erkundungen findet man heraus, wen es jetzt anzurufen gilt, und der Herr von der Dienststelle erklärt, wo sich der Plan des Geschäftsgebiets findet. Das Londoner DriveNow-Geschäftsgebiet, so viel sei verraten, ist klein. Genau genommen ist es so klein, dass einen unweigerlich Mitleid überkommt. Wie kann ein solch kleines Geschäftsgebiet in einer so großen Stadt bloß überleben? Man möchte es im Arm wiegen. Besonders schwer kann es ja nicht sein.
Leider ist das Geschäftsgebiet nicht nur klein, sondern liegt auch ziemlich weit draußen. Am nördlichen Ende der Stadt, abgeschieden wäre das Wort, während man selbst eher in den Süden wollte. Man steigt also zurück ins Auto und fährt nach Norden, durch die schmalen Gassen der Londoner Innenstadt, über psychedelische Kreuzungen und Kreisverkehre. Wie viel es dabei zu erleben gibt! Man lernt die aus dunklen Einfahrten unbeleuchtet hervorbrechenden Pizza-Motorroller kennen, die unvermittelt zurücksetzenden Lieferwagen, die querkreuzenden Blaulichtstreifen der Polizei. Nach einer Weile stellt man fest, schon selbst einer dieser spontan in der Straßenmitte wendenden Fahrer geworden zu sein, einfach weil das hier wegen der Staus dazugehört, wegen des Navigationskitzels und wegen der allgemeinen Lebensfreude. Irgendwann aber wird es ruhiger, man kommt durch Vororte und endlich dahin, wo es offener wird und luftig, wo sich der Blick hebt und alles fast schon ländlich wirkt. Dann ist man am Ziel und trifft beim sechsten Parkversuch tatsächlich die kleine Fläche des Geschäftsgebiets, man stellt den Motor ab und alles ist so still und riecht von draußen schon ein wenig nach Schaf, und während man sitzt und atmet, stellt man fest, glücklich zu sein: Zum ersten Mal hat man ein Auto vom Beifahrersitz aus gesteuert, durch Linksverkehr wie durch eine fremdvertraute spiegelverkehrte Landschaft – und man ist nicht mal dabei umgekommen. Man tritt hinaus auf den nächtlichen Asphalt, wie ein Seemann nach langer Fahrt wieder festen Boden betritt. Und ist so erfüllt von Adrenalin, dass man in seinem restlichen Leben wahrscheinlich nie wieder wird schlafen müssen.

Segen und Fluch des Schriftstellens

Gestern kam die Nachricht, meine gute alte Kosmonautin werde ins Usbekische übersetzt. Heilandzack, ins Usbekische. Helle Freude. Die komplette Lizenzsumme von pauschal €48 allerdings war nach wenigen Minuten Glückstaumel mit einer Runde Kaltgetränke und etwas Knabberei schon wieder verflogen. Liebe Usbeken, bitte vergütet etwaige Nachauflagen in Naturalien: Halva, Borschtsch, Schampanski, vergorene Ziegenmilch – alles recht.

Mein schönstes Ferienerlebnis


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Am Ostermontag natürlich nach Meran, zum Saisonauftakt. Wohin sonst. Im Ippodromo gibt es das alljährliche »Haflinger Galopprennen«. Als wir eintreffen, sind die Tribünen bereits belebt, die Rennbahn strahlend grün unter den schneebedeckten Gipfeln der Texelgruppe. In der Luft ein Hauch von Frühling und Fettgebackenem. Selbstverständlich tragen wir alle Hut, einer breitkrempiger als der andere. Wir kommen gerade rechtzeitig zum ersten Vorlauf »Ältere Stuten«, den die achtjährige Pepita aus Mölten für sich entscheidet. Um keine Leere entstehen zu lassen, gibt es in den Rennpausen Brauchtum. Jetzt zum Beispiel zeigen die Etschtaler Peitschenknaller, wie man im Etschtal Peitschen knallt. Sie schwingen die langen Lederriemen durch das Frühjahr, es muss mühsam sein, ihre Gesichter glänzen von Anstrengung und Glück. Wenn sie die Peitschen gemeinsam knallen lassen, klingt es wie ein einziger Knall.

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Vor dem nächsten Start sind wir bei den Quotenmachern in den Katakomben, denn was sind Pferde ohne Pferdewette. Wir streuen unseren Einsatz etwas unentschieden unter diversen Namen, die Großen setzen vor allem auf Nora aus dem Sarntal, die am Getränkestand als Favoritin gehandelt wird, die Kinder auf Orpine mit der geflochtenen Mähne. Der Start, das Jagen, die gestreckten Leiber. Orpine wird zweite, Nora quält sich als Fünfte ins Ziel, mit irren Augen, die anderen landen dahinter, wir verlieren alles. Erst einmal Platz nehmen auf der Tribüne. Durchatmen. Konzentration. Fokus. Entschiedenheit.

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Im nächsten Rennen setzen wir alles auf ein einziges Tier. Sie heißt Ozone und ist schön, sie besticht uns durch ihr bebendes, vibrierendes Dasein. Außerdem hieß ihr Vater Winnetou und im Sattel sitzt mit hellgrünem Helm die Erschbamer Kathrin. Die beiden haben hier bereits zweimal gesiegt, Ostern 2014 und noch einmal bei der Regenschlacht im vergangenen März. Es ist nicht so, als wären wir nicht nervös, als der Startschuss fällt. Wie schön die Haflinger sind, keine klassischen Rennpferde, aber eine Farbe wie süditalienische Hauswände. Wie Tiramisu. Wie Laminat. Ozone ist nicht zu halten, sie siegt unerreichbar.

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Ist’s Rausch, ist’s Wagnis, ist’s Übermut? Wir setzen den kompletten Gewinn auf T-Amo. Schöner Name für ein Pferd. Aus Kastelruth, im Sattel diesmal die Gasslitter Patrizia, leicht zu erkennen an ihrem malvenfarbenen Helm.
Die Pferde machen sich auf den Weg, es sind jetzt alles Vierjährige. Und weil der ganze Jahrgang mit T beginnt, jagen nun auch Tutti, Trixi, Twety, Tara und ein paar weitere Zeitgenossen um den Sieg, es ist nicht leicht auseinanderzuhalten, am besten hält man sich an die Farbe der Helme. Von T-Amo und ihrer malvenfarbenen Reiterin allerdings ist nach der ersten Kurve keine Rede mehr. Im langgezogenen Ostbogen aber holt sie auf, durch die Gläser ist deutlich zu erkennen, wie sich ein malvenfarbener Fleck aus dem Pulk löst und größer wird, und wer in diesem Moment nicht glaubt, in der Ferne eine Malvenknospe erblühen zu sehen, hat niemals eine lebende Seele besessen. T-Amo kämpft, tobt – und schließt endlich zur Führungsgruppe auf, zu Tutti, Turri und Tooley. Es ist nun ein klassisches Kopf an Kopf, eine einzige geschlossene Wand aus vier Pferden biegt auf die Zielgerade ein, die Jockeys hoppeln im Sattel, ihre Schenkel touchieren einander, ebenso die Flanken ihrer Pferde, alles bebt und schäumt, Gras und Sand und Speichel. Die gesamte Tribüne steht, schreit und springt, als sich die Meute der Zielgeraden nähert. Wer nennt die Namen, wer singt die Lieder, wer könnte das alles überhaupt auseinanderhalten ohne die Helme. Wie eine einzige, einige Quadriga überquert die Gruppe die Linie, am Ende muss das Zielfoto entscheiden – und kürt den Richtigen. T-Amo, wir lieben dich, du fleischgewordener Traum der Rennbahn, pferdefleischgewordene Heldin Südtirols. »So sehen Sieger aus«, dichtet der Stadionsprecher, und wir könnten uns in dem Moment keinen Vers ausmalen, der wahrer wäre, schöner und guter.

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Vielleicht ist dies der Augenblick, als die Unvernunft endgültig mit uns durchgeht, als wir uns sicher wähnen. Sicherer, als Menschen je sein können, sicherer noch als Götter. Natürlich wissen wir von der Favoritin für den nächsten Lauf, The Beauty. Ja, DIE The Beauty. Jenes Pferd, das seine Besitzer einfach Beauty taufen wollten, aber es war eben der T-Jahrgang, siehe oben. Der Stadionsprecher redet sich in einen Rausch hinein, als er ihre bisherigen Erfolge aufzählt, und es wird nicht besser dadurch, dass er sie beständig Tee Buuti nennt. Wenn das nicht irgendwann in Hass umschlägt, weiß ich auch nicht.

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Aber Beauty kann jeder. Wir sind die, die T-Amo zum Sieg getragen haben, zum Sieg gesungen, zum Sieg gekeucht. Wir setzen alles auf Tornado, das ganze blöde Geld. Ein Name wie ein Programm. Klar, am Getränkstand munkeln sie über ihn. Delikater Charakter, delikate Provenienz. Aber immerhin Charakter, immerhin Provenienz. Wer von uns könnte das von sich behaupten, Hüte hin oder her. Tornado lässt sich krönen vom Tschigg Manfred, den wiederum krönt ein bordeauxfarbener Helm, und wie dieser nun in der allmählich schon spätnachmittäglichen Sonne funkelt, kommen einem fast ein wenig die Tränen vor Rührung und Stolz und Zuversicht. Strahlendes Bordeaux, Farbe der Könige, der Päpste, der Mondraketen.
Um ehrlich zu sein, kneifen wir mit dem Startschuss alle die Augen zusammen, nicht nur wegen der allmählich tiefer stehenden Sonne, sondern auch, weil auf der Unterseite der Zuversicht ja immer schon die Sorge gedeiht wie ein hartnäckig wuchernder Schimmelpilz.
Als wir die Augen wieder öffnen, ist das Dilemma bereits recht offenkundig, da braucht es keinen Stadionsprecher. Schon am Ausgang der ersten Kurve muss man kein Glas mehr bemühen: The Beauty führt mit mehreren Längen, ohne jede Anstrengung. Joan Baez sang über ein ähnlich gelagertes Pferd einmal: »And way out yonder, ahead of them all, came a-prancing and a-dancing my noble Stewball« und hätte damit auch in unserem Fall die richtigen Worte gefunden. Hinter ihr im Dunst, längst abgeschlagen, folgt der ganze Rest vom Schützenfest, einschließlich eines winzigen bordeauxroten Hütchens, das nun gänzlich trostlos aussieht. Es endet, wie es enden muss.

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Sonst passiert nicht mehr viel. Beim nächsten Rennen wirft die dreijährige Ulisse an der 200-Meter-Marke ihren Reiter Manfred ab, einschließlich seiner rostroten Haube. DJ Unbekannt spielt »It’s raining men«. Junge Mädchen streicheln abseits der Rennbahn den abgekämpften Tieren ihre Flanken, verschwitzt vom Striegeln, die Blicke leer von Sehnsucht. Wir setzen die Hüte ab, unsere letzten Münzen gehen für Kaffee und Fettgebackenes weg. Anschließend blank nach Hause, wohin sonst. Blank, nicht hellgrün, nicht schnee, nicht malve, nicht rost, schon gar nicht bordeaux. Nein, blank, natürlich blank, in der einzig ehrlichen Farbe des Nachmittags. Wie sonst?

 

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Mensch, Maschine

Das Problem ist nicht, dass einem ab und zu das Telefon aus der Hosentasche rutscht. Sondern dass es diesmal auf dem Balkon passiert ist. Und eigentlich war auch nicht der Balkon das Problem, sondern diese eine Ritze, gerade breit genug, dass theoretisch ein Telefon hindurchpassen könnte. Ein Teil des Problems war dann sicherlich der Übergang vom Konjunktiv zum Indikativ. Die vier Meter bis zum gepflasterten Innenhof wiederum waren weniger das Problem, erst der Innenhof selbst bzw. seine Pflasterung. Und das Problem war nicht einmal, dass das Telefon einfach kaputt gewesen wäre. Kaputt ist nur das Glas (das allerdings sehr). Das Problem ist auch nicht das mittlerweile besorgte neue Telefon, sondern die schlimme Zwei-Faktor-Authentifizierung, um an die alten Daten wieder ranzukommen. Denn hinter seinem Schleier aus Scherben zeigt das alte Telefon erstaunlicherweise noch an, dass es den Code zum Entsperren bekommt. Er lässt sich nur nicht mehr abrufen, da kann man die Splitter drücken, wie man will. Ein Teil des Problems ist womöglich, dass man in diesem seltsamen Ausdruck Zwei-Faktor-Authentifizierung das Wörtchen Zwei zu ernst genommen hat. Viel zu ernst. Hätte man mehr vertrauenswürdige Telefonnummern angegeben (eine andere zum Beispiel, oder drei, vier, fünf), könnte man jetzt auf weitere Geräte zugreifen, weniger zersplitterte. Das Problem ist vielleicht diese – vom heutigen Standpunkt aus übertrieben wirkende – Vorsicht vor Datenherausgabe. Man wünschte sich, mehr Daten herausgegeben zu haben, viele vertrauenswürdige Telefonnummern, mit offenen Armen verteilt. Stattdessen musste man jetzt die sogenannte Account-Wiederherstellung beantragen, und seit einigen Tagen melden sie, diese werde »derzeit bearbeitet«. Die Wiederherstellung werde »einige Tage« dauern. Du fragst dich allmählich, wieviel das eigentlich genau ist, »einige«. Anfangs hattest du an zwei gedacht. Zwei, wie in Zwei-Faktor-Authentifizierung. Wie einem am Morgen des dritten Tages dann langsam dämmert, dass es wohl eher drei werden. Was sich dann auch als falsch erweist. Leider kann man niemanden anrufen. Würde man bei einem Dutzend für gewöhnlich noch von »einige« sprechen? Wahrscheinlich haben die Automaten, die sich jetzt darum kümmern, einfach ein anderes Zeitgefühl, sie sind ja auch gut damit beschäftigt, auszurechnen, wer du wirklich bist. Beim Warten spürst du ganz sacht das beständige Rattern der Algorithmen, seit Tagen schon, seit »einigen Tagen«, um genau zu sein. Wie sie unaufhörlich Rechenoperationen ausführen, um die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, dass es sich bei dir um dich selbst handelt. Daher dieses leise Britzeln in der Atmosphäre. Sie rechnen und rechnen. Ich wünsche ihnen Glück dabei, hoffentlich finden sie am Ende die richtige Lösung.
Eigentlich schreibe ich dies nur für den Fall, dass hier Geräte mitlesen. Liebe Maschinen, falls eine von euch das hier sieht, könntet ihr in einer Rechenpause drüben in Cupertino ein gutes Wort für mich einlegen? Oder »einige«? Vielleicht hören sie auf euch. Danke.

Der Verlag als soziales Gefüge. Eine Studie am Beispiel Kaffee

Das Kaffeejahr geht zu Ende. Die Mitarbeiterinnen der Inlandslizenzen erinnern die Presseabteilung daran, dass sie ab der Buchmesse turnusmäßig für Reinigung und Pflege der Kaffeemaschine im ersten Stock zuständig sind.
Murren. »Von uns trinkt überhaupt keiner mehr Nespresso.« Tuscheln auf dem Flur: »Warum putzen nicht die, die das Ding auch benutzen?« Das Thema Kaffee bekommt eine grundsätzliche Note. Die Volontärin der Auslandslizenzen schreibt eine Nachricht ans ganze Haus: Wie könne ein Verlag, der Bücher zur Nachhaltigkeit im Programm hat, überhaupt Kaffeekapseln verwenden?

Erste Sondersitzungen. Ein Gefühl der Erregung breitet sich aus. Die Projektsteuerung bietet an, die anderen Abteilungen bei der Pflege der Kaffeemaschine zu unterstützen. Einspruch: Darum gehe es doch nicht. Niemand will den Anschein erwecken, auf persönliche Vorteile aus zu sein, wenn das eigentliche Ziel doch sei, einem Unrecht Einhalt zu gebieten. Wortgefechte. Endlich findet sich ein Kompromiss: Die gebrauchten Kapseln werden gesammelt, man will den Hausmeister bitten, sie zum Wertstoffhof zu bringen.
Der Verleger fragt nach: Haben die Buchvertreter dem Verlag nicht gerade eine nagelneue Barista-Anlage geschenkt? Steht im Erdgeschoss – dreizehn bar effektiver Brühdruck. Eine regelrechte Koffein-Druckstraße. Letzte Woche ist extra der Außendienst angereist, um den Kolleginnen im Haus feierlich die Handgriffe zu erklären. Könnte dort nicht das ganze Haus seinen Kaffee …?
Der Vertrieb weist den Vorschlag entrüstet von sich. Das sei ein Geschenk an den Innendienst gewesen, die anderen Abteilungen hätten damit überhaupt nichts zu tun. Die Maschine sei für so viele Nutzer auch gar nicht ausgelegt. Außerdem, wendet der Empfang ein, dauere es damit viel zu lange, größere Besuchsgruppen zu versorgen.
Erste Zusammenrottungen in der Werbung. Die Veranstaltungsabteilung entstaubt die alte French-Press-Kanne. Man tue gut daran, sich autark zu machen. Die Zeit der Kompromisse sei vorbei.
Währenddessen tagt zwei Stockwerke weiter unten der Vertrieb. Die neue Barista-Anlage ist so empfindlich, dass das Mahlwerk verklebt. Am besten verwende man immer die gleiche Kaffeeart. Unter den Kolleginnen bricht offener Streit über die Bohnensorte aus. Das Keyaccount wünscht Qualität, die Auszubildenden können sich Qualität nicht leisten. Erhitzte Debatten. Die Entscheidung wird ergebnislos vertagt.
»Und was«, wendet der Artdirector ein, »ist mit dem Kalk?«
»Welcher Kalk?«, fragen die Gebietsbetreuerinnen.
»Im Leitungswasser«, entgegnet der Artdirector. Das sei hier so kalkhaltig, dass die sensible Maschine sofort verstopft. »Alles andere als entmineralisiertes Wasser ist unvorstellbar.« Am besten Volvic, er habe damit gute Erfahrungen gemacht.
Artdirectoren kennen sich mit so etwas aus.

»Plastikflaschen!« Der Schrei der Volontärin Auslandslizenzen ist bis ins Erdgeschoss zu hören. Da könne man ja ebenso gut wieder Kapseln verwenden. Das Controlling weist leise darauf hin, dass im Zuge des Verlagsumbaus im Keller eine Entkalkungsmaschine eingebaut worden sei. »Und zwar«, ergänzt es flüsternd, »für ziemlich viel Geld.« Seitdem sei überhaupt kein Kalk mehr im Trinkwasser. Der Verleger bestellt Teststreifen, um zu prüfen, ob auf die Volvicflaschen verzichtet werden kann.
Außerdem, fährt das Controlling fort, sei das mit dem Geschenk so eine Sache. Die Vertreter hätten da zwar eine hübsche Idee gehabt und zusammengelegt. Der Verlag habe dann aber heimlich noch was dazugetan, damit es für das gewünschte Modell reichte.
Das Online-Marketing erinnert daran, dass ja auch Vinyl wieder im Kommen sei. Die Zukunft gehöre dem Retro. »Anständige Hipster trinken inzwischen nur noch Aufguss.« Ob wir nicht alle auf Filterkaffee umsteigen sollten. Auf keinen Fall, wendet die Kinderbuchpresse ein: »Ohne meine zimtfarbene Crema kann ich nicht leben.«

An den Bürotüren des Sachbuchlektorats hängen mittlerweile handgeschriebene Plakate, die an die Kolonialgeschichte der Kaffeeplantagen erinnern: KAFFEE IST FLÜSSIGE UNTERDRÜCKUNG! Die Herstellung stellt komplett auf Früchtetee um.
Unablässig treffen von den Vertretern Updates zum idealen Fettgehalt der Milch ein, zur Eindringtiefe des Milchschäumers, zum pH-Wert der verwendeten Reinigungsmittel. Erste Mitarbeiter äußern den Verdacht, die Vertreter verstünden unter Kultur vornehmlich Kaffeekultur.

Notiz vom Hausmeister: Die Entsorgung gebrauchter Nespressokapseln lehne er ab. Er habe sich erkundigt: Vor dem Recyceln müssten die leeren Kapseln erst gesäubert werden. Wer das denn bitteschön übernehmen soll. Ohnehin sei das in puncto Umwelt und Aufwand unverhältnismäßig. Und die Buchhaltung habe ihm eine Studie gezeigt, nach der das Zusammenspiel von Metall und Säure in den Kapseln für die Entstehung von Alzheimer verantwortlich gemacht wird. Der Verleger wünscht im Stillen dem kompletten Haus einen reinigenden Kurzzeit-Alzheimer, um die ganze Sache zu vergessen.

Frühjahrsvorsatz: In Zukunft einfach heißes Wasser trinken. Ist ohnehin bekömmlicher.