Archive (Seite 8 von 25)

München bei Nacht

Hinter dem Viktualienmarkt steht ein älterer Herr am Bürgersteig, grobkarierte Jacke, kleines Ledertäschchen, und schaut sehnsüchtig zur anderen Straßenseite, als läge sie in unerreichbarer Ferne. Ich will schon anhalten und ihm hinüberhelfen, da geht er in die Hocke, setzt beide Hände schulterbreit auf den Asphalt, beugt das rechte Knie zum Boden, den Kopf gesenkt. Auf ein inneres Kommanda hin hebt er zunächst Gesäß und Knie, richtet sich dann gänzlich auf und sprintet hinüber zur anderen Seite. Ein veritabler Sieg – und ein bedenkenswertes Verfahren zur Überwindung etwaiger Unüberwindlichkeiten.

Zum Wetter

Heute morgen auf einmal die Vorstellung, der liebe Gott hätte seinerzeit den Regen vergessen. Gründe gab es in der ganzen Schöpfungsgeschichte genug (erste Arbeitswoche, uneingestandene Enttäuschung mit den Ergebnissen vom Samstag, zudem war das Zeitmanagement noch nicht erschaffen). Mal Wolken, mal Sonne, die Menschheit hätte sich daran gewöhnt. Und heute wäre es IHm mit einem Mal wieder eingefallen: Jesses, da stelle ich doch gleich mal einen gepflegten Landregen an. Panik allerorten. Verschreckte Kinder. Pfützen. Sondersendungen. Mann, wäre hier was los.

Überleben im Hotel

Für den Fall, dass gerade jemand darüber nachdenkt, in eine dieser Toast-Maschinen, wie sie gelegentlich in postimperialen britischen Hotelfrühstückssälen herumstehen (vorne kommt eine Sandwichscheibe aufs ruckelnd rotierende Förderband und bis die als goldbrauner Toast hinten wieder rausgefallen ist, kann man sich schon mal einen Grapefruitsaft oder eine Portion dicke Bohnen holen) – für den Fall also, dass jemanden gerade die Frage umtreibt, ob man sich darin nicht auch ein Croissant knusprig aufbacken könnte –
Tun Sie das nicht.
Während der ersten zwei, drei Inches auf dem Weg in den Schlund der Apparatur geht alles noch gut. Dann zeigt sich, dass ein Croissant doch ausladender ist als eine schlanke Sandwichscheibe, das Gebäck kommt also – wie Ikarus – der Sonne zu nahe, schon beginnt eine der abblätternden Krumen zu glühen, fängt Feuer und im nächsten Moment lodert das komplette Hörnchen lichterloh auf. Das ist – unterstützt durch die starke Rauchentwicklung – nichts, was sich dem vollbesetzten Frühstücksraum leicht verheimlichen ließe, zudem steht unterdessen die ganze Maschine in Flammen. Das flackernde Lichterspiel auf den Gesichtern der anderen Hotelgäste gibt dem frühen Morgen eine wildromantische Note. Wie an einem gemütlichen Kaminabend schauen nun alle gemeinsam ins Feuer, beseelt hängt jeder seinen Gedanken nach. Und wie bei einem richtigen Kaminabend hakt es auch hier irgendwann mit dem Rauchabzug, mittlerweile schlägt das spürbar auf die Atemwege. Die herbeieilenden Servicekräfte sind dankbar, wenn man ihnen während ihrer Löscharbeiten nicht allzusehr im Weg herumsteht, sondern sich still mit einem Schälchen Porridge in eine der Ecken zurückzieht. 

Für Sie getestet. Damit Sie selbst unbeschwert durch den Morgen kommen. Gern geschehen.

Über London

An der Themse gibt es heute jede Brücke doppelt: Einmal in der Höhe und einmal flach als Schatten auf dem Wasser. Wählen Sie selbst, wie Sie die andere Seite zu erreichen wünschen.

Anflug London

Bausatz Romanentstehung

Morgen mehr? Wenn jemand aus dem Team im vergangenen Vierteljahr zu Abendveranstaltungen eingeladen wurde, war die Antwort in der Regel »Heute weniger«. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass Tilman Rammstedt sein Tageskapitel bis mittags pfeifend im Kasten hat, dann wollte ich es irgendwann am Nachmittag rasch mit ihm durchsprechen, so dass die Technik bis zum Abend alles eingerichtet hätte. Wir mussten lernen, dass »ursprünglich« und »vorgesehen« keine Begriffe sind, die der Wirklichkeit dieses Unternehmens gerecht wurden. Was sind schon Pläne, wenn Morgen mehr entsteht? Wenn ungeborene Erzähler auf selbsternannte Unterweltkönige treffen, wenn Hanau zur Hauptstadt der Liebe wird, wenn es einen irgendwann nicht mal mehr verwundert, dass die Figur der Mutter sich ein ganzes Kapitel lang mit ihrer Traurigkeit unterhält, einfach weil man beim Lesen selber viel zu traurig wurde. Wenn im Laufe eines Tages aus dem Kreis der Mitlesenden so viele Vorschläge für den Inhalt des sagenumwobenen Kofferraumkoffers eintreffen, dass der Autor beschließt, es vorerst bei einem Platzhalter zu belassen – der bald schon ein Eigenleben entwickelt. In Sachen Schaltsekunde, Februar oder Blitzzement gibt es so viel zu recherchieren, dass einem die Wikipedia-Server leidtun konnten. Es wurde also, um das Mindeste zu sagen, öfter mal ein wenig später.

Ein Vierteljahr Morgen mehr, das waren auch: Unzählige Telefonate mit dem Autor, an guten Tagen vor Ideen polternd, an gewöhnlichen Tagen mit so langen Phasen vollkommener Leere, dass man ganze Schweigeklöster daraus hätte bauen können. Das war Grübeln, Seufzen, Kichern – und immer wieder Verblüffung, wenn TR auf der Flucht vor sämtlichen hinter ihm herjagenden Deadlines wieder einmal überraschendste Haken schlug. GoogleDocs sind eine grandiose Erfindung fürs Fernlektorat: Oben kann man in Grün schon mal kommentieren, während der andere unten noch rasch die letzten Absätze schreibt. Falls wir denn gerade irgendwo waren, wo die Verbindung halbwegs hielt. Jeweils zur Monatsmitte war das Datenvolumen des Monats aufgebraucht.

Ich habe nur einen Bruchteil der Zeit in diesem Morgenmehr verbracht, die Tilman Rammstedt beim Schreiben hat hineinfließen lassen. Nur im Traum kann ich mir ausmalen, wie es gewesen sein muss, ein Rund-um-die-Uhr-Autor zu sein – und es wären keine schönen Träume. Als Lektor jedenfalls fand man sich während dieser Zeit in ungewohnt bizarren Instantbüros wieder. Die Kapitel trafen ein und wollten bearbeitet werden, wo immer ich gerade war, beim Inder oder in Indien. Während eines Konzerts auf Schloss Elmau ebenso wie auf einem zugigen Provinzparkplatz im Countdown der Akkuprozente. Ich redigierte morgens um vier auf dem Flughafen von Dubai wie im überfüllten bayerischen Nahverkehrszug zur Rushhour. Auf der Herrentoilette eines Galadinners, während nebenan das Hummerparfait erkaltete. Im Fernbus. Im Kino. Im Schlaf. Auf einem Geburtstagsfest (dem eigenen). Zwischen dösenden Flüchtlingen im Wartesaal eines Bahnhofs. Vor drei Wochen, an dem kleinen, elenden Raucherteich der Leipziger Buchmesse stellten wir inmitten von Cosplay-Gnomen und enthaupteten Monsterkatzen zum ersten Mal Überlegungen zu einem noch gänzlich unvorstellbaren Ende an. Gestern Abend vergaß ich beim Aufbruch zu einer Autorenlesung meinen Laptop im Verlag, ausgerechnet vor dem letzten Kapitel. Es war dann nicht schlimm, weil TR nach Ende der Veranstaltung ohnehin noch nicht fertig war und nach dem anschließenden Essen immer noch nicht. Um Mitternacht verwarfen wir telefonisch die Hälfte und er begann wieder von vorn. Ich fuhr heim, telefonierend, irgendwann schliefen die ersten Mitglieder des Teams ein, der Autor schrieb weiter, jeweils zur vollen Stunde klingelte mein Wecker, aber er brauchte jedes Mal noch ein wenig, bis es am Morgen dann fertig war. Nun ist das Ende da und man reibt sich die Augen.

Es war, zusammengefasst, wie ein Besuch auf dem Jahrmarkt als Kind: Bunt, panisch, unvorstellbar lecker. Und auch dort murmelte man, wenn man am Ende nach Zuckerwatte und Senf riechend ins Bett fiel, einen gewonnenen Stoffgorilla im Arm und schwindlig von all den Achterbahnen: »War herrlich, aber jetzt erst mal schlafen.«

Lars Gustafsson

Bei unserem letzten Essen, als wir auf Preise und neue Übersetzungen anstießen, sagte Lars Gustafsson in seinem unnachahmlichen Deutsch, sein Leben sei im Begriff, eine starke Coda zu bilden. Wie in einer Sinfonie von Beethoven, die am Ende so laut und gewaltig werde. Und dann sang er quer durchs Restaurant eine solche Coda und alle sahen auf und freuten sich über diesen schönen, seltsamen, lebendigen Menschen.
Es ist nicht leicht, das Schweigen nach der Coda zu ertragen.

Liebe AfD,

im frischgeleakten Grundsatzprogramm warnt ihr vor importierten kulturellen Strömungen: Sie bedrohen die deutsche Leitkultur! Diese speise sich aus drei Quellen:
1. der Überlieferung des Christentums
2. den antiken Wurzeln der wissenschaftlich-humanistischen Tradition
3. dem römischen Recht
Alle drei sind also – merkt ihr selbst, oder? – importierte kulturelle Strömungen.

Mailand. Zeichen

Die Stewardess verneint meine Frage, ob womöglich Nähzeug an Bord sei. Ich erkläre, das Etikett meiner Krawatte habe sich gelöst, ich sei auf dem Weg zu einer Trauerfeier und wolle zu Ehren des Toten nicht mit baumelndem Etikett herumlaufen. Sie fragt, wer denn gestorben sei. Dann holt sie ihre eigene Handtasche, kramt darin und findet tatsächlich Nadel und Faden.

Der Motorrad-Pizzabote an der Via Boccaccio, wie er beim Warten an der Ampel gedankenverloren seine Transportbox streichelt. 

In der Pasticcheria Piazzale Cadorna kostet die heiße Schokolade sechs Euro, dafür lobt die Bedienung überschwänglich mein Parfum, obwohl ich gar keines habe.

Auf dem Weg zum altehrwürdigen Castello Sforzesco an einem Eco Store vorbeilaufen, es gibt dort Tintenstrahlpatronen. Über dem Tor zur Burg prangt das Reiterrelief für Humberto Primo.

Die Bürger der Stadt warten in langen Reihen, die sich kreuz und quer über die Innenhöfe und bis hinaus auf die Straße ziehen. Am Durchgang zum letzten Hof liegt, auf einem blauen Samttischchen, eine einzelne Rose. Menschen stehen im Kreis herum und richten ihre Telefone darauf, um Aufnahmen zu machen.

Eine kleine Bühne ist aufgebaut, an der Wand dahinter stehen reglos aufgereiht Uniformierte und halten die Banner zahlloser Provinzen, Orden, Fakultäten. In den Bogengängen Mitglieder der verschiedenen Polizeieinheiten in der jeweiligen Paradeuniform, einer prächtiger als der andere. Man sieht goldene Legionärshelme, Tropenhelme, Bobbyhelme, Napoleonhüte, Prinz-Heinrich-Mützen. Ist die Kulturgeschichte der polizeilichen Kopfbedeckung Italiens bereits geschrieben?

Musik, Erinnerungen, Gedanken. Ein Schulfreund berichtet, wie er dem Jüngeren vor dessen Militärzeit eingebläut habe, nicht aufzufallen und sich wie ein gewöhnlicher Gefreiter zu verhalten. Als er später bei einem Besuch nach dem Soldaten E. fragte, habe der wachhabende Offizier leise geantwortet: »Der Professor? Der arbeitet.«

Am Ende einer langen Reihe von Ministern, Verlegern, Rektoren, Bürgermeistern, Vorsitzenden, Ehrenpräsidenten, Schauspielern, Weggefährten tritt ein Junge nach vorn und sagt seinen Namen, Emanuele, er sei der Enkel. Über die Menge im Hof hinweg schaut er auf und dankt seinem toten Großvater für all die Geschichten, die er von ihm erzählt bekommen hat.

Grazie, Umberto.

 

EcoFuneral