Lesereisen im Wandel der Zeiten

70er Jahre: Laute Musik, flackernde Schreibtischlampe. Autor sitzt mit Bierflasche am Tischchen und liest bis tief in die Nacht Unverständliches, ohne aufzuschauen. Alle rauchen. Anschließend ungewollte Schwangerschaft.

80er Jahre: Lesung im Stehen, Pult mit rotem Samt bedeckt. Dazu Rotwein. Fragen aus dem Publikum sind weniger Fragen als allgemeine Statements zur Lage. Anschließend Trunkenheit & Tränen.

90er Jahre: Weißwein. Halbe Stunde Publikumsfragen, man erkundigt sich nach der Faktizität des Gehörten. Anschließend Hotelbar ohne bleibende Erinnerung.

00er Jahre: Zwei Wassergläser bleiben unberührt. Moderator befragt Autorin nach autobiografischem Hintergrund. Endlose Signierschlange. Sushi auf die Hand. Anschließend Minibar.

10er Jahre: Lesung findet aus Gründen des Audience Developments in Kleintierhandlung statt. Leider zur Paarungszeit, so dass es in den Käfigen zu Aktivitäten kommt. Moderator verfolgt das Geschehen zunehmend ungehemmt. Publikum tut es ihm gleich. Anschließend serviert Micro-Brewery frisch gezapftes Bier, was die allgemeine Erregung kaum dämpft. Abschied in zufälligen Paarungen.

20er Jahre: Kurz vor Beginn flüstert Moderatorin, ob sich die Lesung auf ein, zwei knappe Blöcke beschränken ließe. Publikum habe vermehrt Mühe mit der Konzentration. Stattdessen Gespräch über Hufeisentheorie, koloniales Erbe und ökologischen Fußabdruck von Lesereisen. Stimulierend ausfransende Gedankengänge, allerdings ist wegen der Masken nicht alles zu verstehen. Anschließend Nieselregen.

30er Jahre: Im Studio, die Kameraleute heißen Mo und Ivy. Auf Videowand spielen Avatare zentrale Szenen des Romans nach. Drei zugeschaltete {MOD} loben {AUT} für Frisur. Plauderei über Nahrungsergänzungsmittel, unterlegt mit Geräuschen von knackendem Lagerfeuer. Als »Tonprobe« genügt einzelner Satz aus Roman, dazu nachdenkliche Gesichter der {MOD}. Im Laufband Katastrophenmeldungen. Anschließend Voucher für Gastro-Automaten. Nachts auf dem Heimweg im Flugtaxi ein Tomatensaft, halb ausgetrunken.

Animal absens

Er war einer der unentdecktesten entdeckungswürdigen Schriftsteller unseres Landes. »Aus einem deutschen Zoo entfloh, im Jahr der vorgeschichtlichen Riesenschlange, die Frau des Zoodirektors, Richtung Ende der Welt. Und wo liegt dieses Ende? Wir wissen es noch nicht. Auch unsere Geschichte kommt zu spät.« So gewaltig wie schwermütig hebt Martin Klugers Roman Abwesende Tiere an, der zur Gänze im Berliner Zoo spielt. Fast zehn Jahre hat Kluger daran geschrieben, noch einmal so lange brauchte es, bis er für die tausend Seiten einen Verlag gefunden hatte. Da war es längst zu spät, um als junge Autorenhoffnung zu gelten. Das Buch gehört in den Kanon, in die Bibliothek dieses Landes, als eine unserer schönsten und traurigsten Geschichten. Die ersten Dutzend Seiten gilt es einfach einzuatmen, zu durchwandern, meinetwegen: zu überstehen. Sie sind reine Sprache. Danach öffnet sich das Erzählen und wird zu einem aberwitzigen, wahren Abbild einer Welt, in der man Angst haben kann. Zwischen all dem Krächzen und Schnattern der Tiere gibt es eine besonders eigenwillige Art zu bestaunen: den Menschen. Hier ist er ausgestellt vom Zoodirektor bis zum Vogelpfleger, als Exempel einer erstaunlichen Spezies.

Martin Kluger wurde 1948 geboren, als Sohn eines polnischen Juden, dem die Flucht nach London gelang und der nach dem Krieg Feuilletonchef des Tagesspiegel wurde, bis ihm der miserable Nachkriegsalkohol das Leben nahm. Da war der Sohn sieben Jahre alt. Er blieb Berliner, allen Ausflügen zum Trotz. Die führten nach Oberlin/Ohio zum Studium, nach Paris, wo er in Zeiten der Drehbucherfolge das Leben genoss, vor allem nach Uruguay, dem Sehnsuchtsort. Bis heute steht in der Biografie, er lebe in Berlin und Montevideo, dabei war letzteres vor allem ein Wunsch. So untrennbar Martin Kluger mit Berlin verbunden war, weite Teile der Stadt mied er, gerade im Osten, wo ihm ohne die Tünche des Nachkriegswestens die Überbleibsel der Reichshauptstadt ins Auge stachen. Einen einzigen Ort gab es, an dem er sich zu Hause fühlte: den Zoologischen Garten. Dort – »sprachlos vor den Tieren«, wie er einmal formulierte – kannte er jedes Geschöpf.

Er schrieb. Hörspiele. Werbetexte. Gemeinsam mit seiner Lebensfreundin Maureen Herzfeld entstanden Drehbücher, trotz allen Haderns mit der Fernsehproduktionswirklichkeit. Mit Heinz Sielmann schrieb er ein Zoo-Kinderbuch. Seine Säulenheiligen waren Iris Murdoch, Malcolm Lowry und Aidan Higgins, er übersetzte sie alle. Und Bücher schrieb er. Über den Roman Die Gehilfin mit der herrlichen Heldin Henrietta Mahlow, die in der Charité aufwächst, schrieb die ZEIT, Martin Kluger treibe seine Leser »bis an den Rand der Tränen«, und wollte damit einfach nur sagen, dass man beim Lesen halt andauernd heult. Er war ebenso für den Deutschen Buchpreis nominiert wie der nächste Roman, Der Vogel, der spazieren ging. Ist es trotzdem richtig, Kluger unentdeckt zu nennen? Obwohl ihm später der Bremer Literaturpreis umgehängt wurde? Mir kommt es so vor. Nehmen wir es als Einladung zum Lesen und Wiederlesen. Wer sich das 1000-Seiten-Monstrum noch aufheben will, starte mit dem Erzählband Der Koch, der nicht ganz richtig war. Auch dort fallen Glanz und Melancholie in eins, mit ewigen Sätzen: »Deine Mutter verließ viele Länder. Sie war die letzte große Länderverlasserin.«

Seine Dämonen waren immer bei ihm. Aber was für schöne Kostüme hat Martin Kluger ihnen geschneidert. Sie bevölkerten seine Bücher, seltsam und flackernd und immer auf der Flucht, die Krankenschwester, die morgens zur Arbeit schwimmt, die Bewohner Dahlems, die einsamen Vögel. Vor allem aber der Professor für Schmerzforschung, der in immer neuen Tarnungen und noms de guerre auftrat als Überlebender. Der Dinge verkündete, die keiner hören mochte – im Wesentlichen die simple Nachricht, dass der Schrecken kein Ende hat. Und bei aller Zuneigung, die man diesen Figuren entgegenbrachte, war immer klar, dass sie nur einen Hauch ihrer Geheimnisse zeigen.

Dass für Martin Kluger die Vergangenheit nicht vorüber war, brachte mit sich, dass ihm die Zukunft oft ungeheuerlich erschien. Als 2008 sein letztes Buch erschien, kündigte ich an, vom nächsten werde es neben der gedruckten Fassung auch eine digitale geben. Es war ihm unvorstellbar. Wir verabredeten eine Wette. Seither schrieb er an einem Roman, Playboy, der noch einmal alles wagen sollte. Sein Held Juri Tabac steigt aus den Trümmern des Krieges auf zu illustrem Ruhm, obwohl niemand weiß, woher er kam. Das Manuskript blieb unvollendet, unsere Wette haben wir beide verloren. Vorgestern ist Martin Kluger gestorben. Sein Tod lässt das Land nicht innehalten. Aber wenn die Tiere im Zoo in diesen Tagen ein wenig stiller schreien, wissen wir, woran es liegt.

(Mein Nachruf in der FAZ)

Nichtbinäre Literatur

(Vortrag neulich im virtuellen Marbach)

Wer von Literaturarchiven spricht, spricht von Ordnung. Das einzelne Dokument mag unordentlich sein – und soll es womöglich auch, immerhin geht es um Literatur. Als Ganzes aber, als System gehört zum Archiv die Auffindbarkeit. Struktur ist sein Daseinszweck.

Dafür braucht es Kategorien. Wir können nicht ohne sie, im Archiv wie im restlichen Dasein. Sie bieten unserem Leben ein Gerüst, dem Denken und dem Handeln. Sie halten uns in Ordnung und ermöglichen überhaupt erst Vorstellungen. Sie erzeugen Vorurteile, ohne die das Überleben im Alltag nicht möglich wäre. Daran wird deutlich: Sie engen uns auch ein.

Denn Kategorien beschränken unsere Vorstellungskraft, sie rastern unsere Imagination. Nicht anders die Ordnungssysteme der Buchwelt, die Kategorien von Buchhandlungen, Büchereien, Onlineversendern – oder eben Literaturarchiven.

Und nicht zuletzt von Verlagen. Auch wir sind Gefangene unserer Kategorien. Ein zufälliges Beispiel: Das Buch selbst scheint ein neutrales Gefäß zu sein. Lässt sich etwa nicht reinschreiben, was immer man will? Erstaunlicherweise: Nein. Als Gegenstand entwickelt das Buch Eigenlogiken, die Kollateraleffekte auf den Inhalt haben. Und damit auch auf die Literatur. Welche Erwartungen habe ich an ein Buch, was verspricht es mir, was verspreche ich mir von ihm? Ganz konkret: Welches Format und welches Gewicht liegen gut in der Hand? Wie viel Text passt auf eine Seite und in welchem Satzspiegel? Wir haben noch immer die Kolumnenschnüre aus Bleisatzzeiten im Kopf. Wie dünn kann ein Buch werden, um für die Warenströme des Handels noch relevant zu sein? Oder wie dick? Welcher Ladenpreis ergibt sich und ist er an der berühmten Ladenkasse durchsetzbar? Unsere Vorstellungen vom bürgerlichen Roman hängen auch am Format Buch. Oder nehmen Sie die Gattung Erzählung: In freier Wildbahn tritt sie fast nur im Plural auf, als Erzählungsband, als gäbe es Storys nur im Dutzend, als Verpackungseinheit. Auch das liegt ebenso an den Gegebenheiten vom Buch als Objekt, das einen gewissen Umfang verlangt, wie am Buchmarkt, der Erwartungen hat an die Verkaufseinheit Buch und ihren Preis. Für ein Zehn-Seiten-Heftchen schlage ich doch keine Verlagsvorschau auf.

Wenn wir daher über die Öffnung von Literaturformen sprechen, über die Auflösung des Literaturbegriffs, über nicht länger fixe Gattungskonzepte und das Verschwinden eines geordneten Kanons, dann sprechen wir nicht zuletzt über die Auflösung von Kategorien. Das betrifft das Ausfransen der Literatur an den Rändern, im momenthaften Aufleuchten eines Spoken-Poetry-Abends, in fluiden Hybridformen des Digitalen, im Flackern der sozialen Medien. Aber es betrifft sie auch in ihrem sogenannten Zentrum, wo alles noch ganz vertraut und sicher scheint, wo sich glauben lässt, alles sei vollkommen stabil und gesetzt und rolle unbeirrbar Richtung Ewigkeit. Nichts da. Die Kategorien der Literatur lösen sich auf in ihrem innersten Kern.

Was steht im Zentrum dieses Systems? Wir Verlage ordnen unsere Programme entlang einiger zu Kategorien geronnener Erwartungen, denen wir nicht entkommen. Das betrifft Gattungen, Genres, irgendwelche hirngespinstigen Zielgruppen. Für einen Publikumsverlag, wie wir einer sind, ist die wichtigste dieser Unterscheidungen die zwischen Literatur und Sachbuch. Was eine zufällige Paarung sein könnte, eine Nachbarschaft, erleben wir als Gegensatz. Die Dualität prägt unsere Arbeit so fundamental, dass wir sie kaum mehr bemerken.

Wir beschäftigen eigene Lektorate für Sachbuch und Literatur (mit jeweils eigenen Sprech- und Dresscodes). Wir produzieren eigene, sauber getrennte Vorschauen. Größere Buchhandlungen präsentieren die Bücher auf jeweils eigenen Stockwerken. Es gibt getrennte Rezensionsbeilagen und eigene Preisjurys. Ich verrate Ihnen nach dieser langen, durchsichtigen Herleitung allmählich kein Geheimnis mehr, wenn ich sage: Es gibt das alles nicht. Ceci n’est pas un roman. There is no such thing as non fiction. Das ist alles nur in deinem Kopf.

Oder zumindest gibt es den Unterschied nicht, die Demarkationslinie. Und die Nichtexistenz dieser Grenze nimmt an Intensität zu.

Uns jedenfalls gelingt es immer weniger, die Bücher sauber einzuordnen. Das ist ein echtes, lebensnahes Problem. Für einen stetig wachsenden Teil des Programms gilt: es steht zwischen den Stühlen. Um nur einige Autorinnen aus den eigenen Programmen der letzten Zeit zu nennen: Dorothee Elmiger, Maggie Nelson, Eula Biss, Leslie Jamison, Lisa Olstein. Und wir sitzen in unseren Programmrunden und haben keinen Schimmer, in welchen Topf sie gehören.

Und so bilden sich allmählich zwischen fiction and non-fiction neue Formen, eine Art drittes Geschlecht der Literatur. Als hors-sexe steht es nicht einfach neutral irgendwo im Raum zwischen den anderen, sondern als ein Eigenes. Was wir für Menschen gerade mühsam und ziemlich grimmig durchbuchstabieren, das Nonbinäre, die Identitäten und Nichtidentitäten, gelingt der Literatur ganz von selbst. Das sind Texte, die ein Thema umkreisen, aber starke erzählerische Elemente aufweisen. Sie argumentieren nicht von der Kanzel, sondern sind persönlich und subjektiv. Für die Autofiktion fehlt die Fiktion, für den Essay sind sie womöglich zu verletzlich. Sie werfen das eigene Ich mit ins Spiel, das zum Lackmusteststreifen eines Gedankens wird. Diese Texte treffen keine festen Aussagen, sondern erlauben eigene Erkenntnisbildung. Ihre Struktur ist assoziativ und mosaikförmig, sie nimmt Elemente des Digitalen auf und macht sie nutzbar. Es sind schöne, eigenartige Spaziergänge, die man beim Lesen unternimmt.

Niemand hat diese Bücher gerufen, am allerwenigsten wir sortiersüchtigen Institutionen. Sie waren einfach da und sind nicht wieder gegangen. Und jetzt müssen wir zusehen, wie wir unseren Systemen beibringen, sich zu öffnen.

Und so kehrt, zweihundert Jahre später, der Roman dahin zurück, wo alles anfing. Ins Nichtlineare, Unordentliche, Anregende. Kein schlechter Ort.

Soundtrack Krise

Eine Hitparade:

1. Das metallische Einfrieren der Stimmen in den Konferenzen

2. Ein Mann, der im geparkten Wagen Posaune übt

3. Der eyjafjallajökullleere Himmel

4. Der Triumph der Nachtigallen

5. Das Schweigen der AfD

6. Die Glocken

Uch

Als praktische Handreichung zum Nichtdurchdrehen haben wir hier im Family Office jetzt »Die Lehre der fünf Uch« eingeführt.

Täglich:

1 Buch (lesen)

1 Kuchen (backen)

1 Huch (Zeitung lesen, neue Fallzahlen)

1 Fluch (umständehalber)

1 Juchzen (für allg. Lebensmut & Moral, siehe auch »Kuchen«)

Spielregel

Erster Tag der bayerischen Ausgangssperre. Früh am Morgen fährt ein rotes Feuerwehrwägelchen durch Gassen und Nieselregen und fordert über den scheppernden Bordlautsprecher die hiesige Wohnbevölkerung auf, hinter verschlossener Tür zu bleiben. Als braver Bürger tue ich das und lese im Bett Clemens Brentanos Quarantäne-Novelle »Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter«, die so aberwitzig ist (vor allem auf ihren ersten Seiten), dass ich vorschlagen möchte, sie zur Richtschnur zu wählen: Jeder Erdenbewohner wird in diesen Wochen ja wohl einen Cororoman schreiben, schon um geistig heil hindurch zu kommen, aber vielleicht können wir uns darauf verständigen, dass nur veröffentlicht wird, was es mit Brentano aufnehmen kann?

2O2ONA

Es wird jetzt ein bisschen stiller. Versuchen wir es als eine Art Advent zu betrachten. Als Zeit zwischen den Jahren, auch wenn es sich in diesem Fall wohl um die Zeit zwischen den Jahren 2019 und 2021 handelt. Seltsam, so plötzlich ausgebremst zu werden und im Aufprall fliegt alles andere zunächst noch weiter – Termine, Kalender, Gedanken. Stattdessen also Besinnlichkeit. Gelegenheit, den kleinen Dingen zu lauschen, dem Frühlingszwitschern der Vögel (das diesmal besonders schön klingt). Den Sirenen der Ambulanz. Dem Knistern der Klopapierpackungen. 

Natürlich kann man schauen, wie sich die Fallzahlen entwickeln. Aber doch nicht rund um die Uhr. Wenn alle in dieser Zeit zwei, drei neue Sprachen lernten oder Ornithologie oder Geophysik, wären wir nachher zumindest schlauer. (In diesem Zusammenhang allerdings eine Bitte: Die Literaturgeschichte wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auf das Verfassen weiterer Quarantäneromane verzichten könnten.)
Die ganze Sache fühlt sich für Festangestellte erheblich anders an als für Freie. Nicht zuletzt in den Künsten. Viele unserer Autorinnen und Autoren wären in diesen Wochen unterwegs, um ihre Bücher vorzustellen – ohne Lesungshonorare fällt ein guter Teil ihrer Einnahmen weg. Wie wäre es, das Ticket nicht zurückzugeben, so dass die Veranstalter zumindest ein Ausfallhonorar zahlen können? Immerhin wollte man zur Lesung gehen, um ihnen nahe zu sein. So unvergesslich nah wie mit dieser Geste kommt man ihnen so schnell nicht wieder. 

Was jetzt endlich geht: lesen. Haben wir davon nicht immerzu geträumt? Bisher galt immer: »Würde ja gern, aber woher nehme ich die Zeit?« Nun, Zeit gibts jetzt säckeweise. Ansonsten: Nichts machen. Alles machen. Wer Kinder im betreuungsfähigen Alter hat: Viel Vergnügen! Zeit für Bilderbücher, Kinderbücher, Jugendbücher. Gelegenheit für eine Alphabetisierungswelle, wie es seit Harry Potter keine gab.

Dankbar sein, falls man mit jemandem zusammen wohnt, mit dem sich eine Quarantäne aushalten lässt. Andernfalls: Zusehen, dass man die Zeit nutzt, um die Sache wieder ins Lot zu bringen. Nie hat es sich mehr gelohnt als jetzt. Wie sich überhaupt ganz unerhörte Kategorien der Liebesbezeugung entwickeln: »Mit dir könnte ich eine Quarantäne überstehen« ist das neue Pferdestehlen.

Gerade erst meldeten die Nachrichten, dass Beteigeuze, der Schulterstern des Sternbilds Orion, kurz davor stehe, erst zu explodieren und anschließend zu verglühen. In einer Mischung aus vorweggenommener Nostalgie und bewegungslosem Katastrophentourismus schauten wir damals hoch, um Abschied zu nehmen, und warteten auf den großen Knall. Wenn man heute nächtens (zur Vermeidung sozialer Interaktion) aus dem Haus geht und hinaufschaut, strahlt Orions Schulter ebenso ruhig und unbeirrt wie eh und je, während man selbst sich hier unten so nah am Verglühen fühlt wie lang nicht mehr.

Wie selbstverständlich wir darauf gesetzt haben, dass schon alles gut gehen wird. Das tut es nun nicht. Was jetzt hilft: Sich vor Augen führen, dass unablässig mehr und mehr Menschen genesen. Und jeder Genesene ist ein kleines Bollwerk gegen die Pest.

Währenddessen finden die ersten Geburtstagspartys per Videokonferenz statt – es kann nicht mehr lange dauern, bis Programmupdates die Funktionen »Luftschlange werfen« und »Topfschlagen« enthalten. Was sonst zu tun ist: Virtuelle Lesekreise gründen. Onlinescrabble durchspielen. Vogelstimmen lernen. Nudelrezepte tauschen. Bei den Buchhandlungen vorbeischauen, ob sie noch geöffnet haben. Wenn ja: Freude zeigen. Wenn nein: einen kleinen Schaufensterbummel auf ihren Onlineseiten unternehmen (immerhin zahlen sie die Steuern für all die Rettungsdienste, Rettungswesten, Rettungsschirme) und etwas mitnehmen – die Bücher der daheimbleibenden Autoren, die Fachbücher für Ornithologie oder die längst geschriebenen Quarantäneromane.

Was wird die Zukunft bringen? Bleibende Hautprobleme an den Händen. Horrorromane mit sich über Videokonferenzen verbreitenden Viren. Einen Niedergang der Pastaindustrie, weil auf Jahre hinaus alle genug Nudeln zu Hause haben. Und hoffentlich den Transfer unserer neuen Entschiedenheit auf die Herausforderungen des Klimawandels.
Was wir bis dahin schon mal machen können: Vorfreude entwickeln. Auf alles, was wir vermisst haben (Nähe, Reisen, Sorglosigkeit) und auf alles, was wir bislang in all seiner Schönheit noch gar nicht richtig schätzen konnten (Hände schütteln, überfüllte Konferenzen, überfüllte U-Bahn-Waggons, Alltag).

Es gibt viele einzelne gute Gründe, warum es Menschen in dieser Zeit schlechter geht als vorher. Das sind großartige Zeiten für Gemeinsinn. Wir werden uns an diese Wochen erinnern. Sorgen wir dafür, dass wir uns in guter Erinnerung behalten.

Ex oriente lux

Ich hatte die Ehre & das Vergnügen, heute die Eröffnungsrede beim Jaipur Literature Festival Book Mark zu halten und möchte einer neugewonnenen Überzeugung Ausdruck verleihen: Es erscheint mir zwingend notwendig, Literaturfestivals fürderhin nur noch in Palästen abzuhalten.

Geheul

Der Hanser Verlag lebt ja in einem dieser eher straffen, stark porschehaltigen Viertel Münchens. Offiziell heißt es Bogenhausen, auch wenn wir es zärtlich Ellbogenhausen nennen. Die Häuser sind von dem Typus, den Georg Büchner mit seiner architektonischen Intervention »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« im Blick hatte – und zwar mit dem hinteren Teil. Ein schönes Exemplar ist zum Beispiel die Villa nebenan. Adrett und gut gesichert, ein Schmuckstück stiller Zurückhaltung. Wobei es mit der Stille nun nicht mehr weit her ist. Heute Mittag sprangen wir alle auf einmal aus unseren Sesseln, in der naheliegenden Annahme eines atomaren Erstschlags – so jedenfalls hörte es sich in unseren Ohren an. Nach einiger Recherche erwies sich das hochtönende Jaulen jedoch einfach als Äußerung der nachbarlichen Alarmanlage. Die ersten Minuten lang glaubten wir, am Ausbluten unserer Gehörgänge friedlich zu verenden. Dann kam die Polizei und stellte fest, es sei ein sog. »Fehlalarm«. Sie könnten nichts machen, die Bewohner seien außer Haus (zu dieser Zeit des Jahres ist Bogenhausen noch auf der Piste). Das ist jetzt gut drei Stunden her. Das Jaulen hält ohne Unterlass an. Längst ist der erste Schreck aus unseren Gesichtern gewichen, inzwischen lächeln wir schon wieder, wenn wir uns auf dem Flur begegnen – Gespräche aber sind nach wie vor unmöglich. Es ist ein Wunder, dass das Ohr so etwas zu regulieren imstande ist. Wie das Auge beim Eintritt in gleißendes Sonnenlicht schaltet es in einer gewaltigen Selbstreduktion einfach auf Taub, womöglich für immer. Nehmt uns auf in eure Nachtgebete, schreibt Karten – aber ruft nicht an, die Leitungen halten dem Lärm nicht stand.