Er war einer der unentdecktesten entdeckungswürdigen Schriftsteller unseres Landes. »Aus einem deutschen Zoo entfloh, im Jahr der vorgeschichtlichen Riesenschlange, die Frau des Zoodirektors, Richtung Ende der Welt. Und wo liegt dieses Ende? Wir wissen es noch nicht. Auch unsere Geschichte kommt zu spät.« So gewaltig wie schwermütig hebt Martin Klugers Roman Abwesende Tiere an, der zur Gänze im Berliner Zoo spielt. Fast zehn Jahre hat Kluger daran geschrieben, noch einmal so lange brauchte es, bis er für die tausend Seiten einen Verlag gefunden hatte. Da war es längst zu spät, um als junge Autorenhoffnung zu gelten. Das Buch gehört in den Kanon, in die Bibliothek dieses Landes, als eine unserer schönsten und traurigsten Geschichten. Die ersten Dutzend Seiten gilt es einfach einzuatmen, zu durchwandern, meinetwegen: zu überstehen. Sie sind reine Sprache. Danach öffnet sich das Erzählen und wird zu einem aberwitzigen, wahren Abbild einer Welt, in der man Angst haben kann. Zwischen all dem Krächzen und Schnattern der Tiere gibt es eine besonders eigenwillige Art zu bestaunen: den Menschen. Hier ist er ausgestellt vom Zoodirektor bis zum Vogelpfleger, als Exempel einer erstaunlichen Spezies.
Martin Kluger wurde 1948 geboren, als Sohn eines polnischen Juden, dem die Flucht nach London gelang und der nach dem Krieg Feuilletonchef des Tagesspiegel wurde, bis ihm der miserable Nachkriegsalkohol das Leben nahm. Da war der Sohn sieben Jahre alt. Er blieb Berliner, allen Ausflügen zum Trotz. Die führten nach Oberlin/Ohio zum Studium, nach Paris, wo er in Zeiten der Drehbucherfolge das Leben genoss, vor allem nach Uruguay, dem Sehnsuchtsort. Bis heute steht in der Biografie, er lebe in Berlin und Montevideo, dabei war letzteres vor allem ein Wunsch. So untrennbar Martin Kluger mit Berlin verbunden war, weite Teile der Stadt mied er, gerade im Osten, wo ihm ohne die Tünche des Nachkriegswestens die Überbleibsel der Reichshauptstadt ins Auge stachen. Einen einzigen Ort gab es, an dem er sich zu Hause fühlte: den Zoologischen Garten. Dort – »sprachlos vor den Tieren«, wie er einmal formulierte – kannte er jedes Geschöpf.
Er schrieb. Hörspiele. Werbetexte. Gemeinsam mit seiner Lebensfreundin Maureen Herzfeld entstanden Drehbücher, trotz allen Haderns mit der Fernsehproduktionswirklichkeit. Mit Heinz Sielmann schrieb er ein Zoo-Kinderbuch. Seine Säulenheiligen waren Iris Murdoch, Malcolm Lowry und Aidan Higgins, er übersetzte sie alle. Und Bücher schrieb er. Über den Roman Die Gehilfin mit der herrlichen Heldin Henrietta Mahlow, die in der Charité aufwächst, schrieb die ZEIT, Martin Kluger treibe seine Leser »bis an den Rand der Tränen«, und wollte damit einfach nur sagen, dass man beim Lesen halt andauernd heult. Er war ebenso für den Deutschen Buchpreis nominiert wie der nächste Roman, Der Vogel, der spazieren ging. Ist es trotzdem richtig, Kluger unentdeckt zu nennen? Obwohl ihm später der Bremer Literaturpreis umgehängt wurde? Mir kommt es so vor. Nehmen wir es als Einladung zum Lesen und Wiederlesen. Wer sich das 1000-Seiten-Monstrum noch aufheben will, starte mit dem Erzählband Der Koch, der nicht ganz richtig war. Auch dort fallen Glanz und Melancholie in eins, mit ewigen Sätzen: »Deine Mutter verließ viele Länder. Sie war die letzte große Länderverlasserin.«
Seine Dämonen waren immer bei ihm. Aber was für schöne Kostüme hat Martin Kluger ihnen geschneidert. Sie bevölkerten seine Bücher, seltsam und flackernd und immer auf der Flucht, die Krankenschwester, die morgens zur Arbeit schwimmt, die Bewohner Dahlems, die einsamen Vögel. Vor allem aber der Professor für Schmerzforschung, der in immer neuen Tarnungen und noms de guerre auftrat als Überlebender. Der Dinge verkündete, die keiner hören mochte – im Wesentlichen die simple Nachricht, dass der Schrecken kein Ende hat. Und bei aller Zuneigung, die man diesen Figuren entgegenbrachte, war immer klar, dass sie nur einen Hauch ihrer Geheimnisse zeigen.
Dass für Martin Kluger die Vergangenheit nicht vorüber war, brachte mit sich, dass ihm die Zukunft oft ungeheuerlich erschien. Als 2008 sein letztes Buch erschien, kündigte ich an, vom nächsten werde es neben der gedruckten Fassung auch eine digitale geben. Es war ihm unvorstellbar. Wir verabredeten eine Wette. Seither schrieb er an einem Roman, Playboy, der noch einmal alles wagen sollte. Sein Held Juri Tabac steigt aus den Trümmern des Krieges auf zu illustrem Ruhm, obwohl niemand weiß, woher er kam. Das Manuskript blieb unvollendet, unsere Wette haben wir beide verloren. Vorgestern ist Martin Kluger gestorben. Sein Tod lässt das Land nicht innehalten. Aber wenn die Tiere im Zoo in diesen Tagen ein wenig stiller schreien, wissen wir, woran es liegt.
(Mein Nachruf in der FAZ)