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Es wird jetzt ein bisschen stiller. Versuchen wir es als eine Art Advent zu betrachten. Als Zeit zwischen den Jahren, auch wenn es sich in diesem Fall wohl um die Zeit zwischen den Jahren 2019 und 2021 handelt. Seltsam, so plötzlich ausgebremst zu werden und im Aufprall fliegt alles andere zunächst noch weiter – Termine, Kalender, Gedanken. Stattdessen also Besinnlichkeit. Gelegenheit, den kleinen Dingen zu lauschen, dem Frühlingszwitschern der Vögel (das diesmal besonders schön klingt). Den Sirenen der Ambulanz. Dem Knistern der Klopapierpackungen. 

Natürlich kann man schauen, wie sich die Fallzahlen entwickeln. Aber doch nicht rund um die Uhr. Wenn alle in dieser Zeit zwei, drei neue Sprachen lernten oder Ornithologie oder Geophysik, wären wir nachher zumindest schlauer. (In diesem Zusammenhang allerdings eine Bitte: Die Literaturgeschichte wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auf das Verfassen weiterer Quarantäneromane verzichten könnten.)
Die ganze Sache fühlt sich für Festangestellte erheblich anders an als für Freie. Nicht zuletzt in den Künsten. Viele unserer Autorinnen und Autoren wären in diesen Wochen unterwegs, um ihre Bücher vorzustellen – ohne Lesungshonorare fällt ein guter Teil ihrer Einnahmen weg. Wie wäre es, das Ticket nicht zurückzugeben, so dass die Veranstalter zumindest ein Ausfallhonorar zahlen können? Immerhin wollte man zur Lesung gehen, um ihnen nahe zu sein. So unvergesslich nah wie mit dieser Geste kommt man ihnen so schnell nicht wieder. 

Was jetzt endlich geht: lesen. Haben wir davon nicht immerzu geträumt? Bisher galt immer: »Würde ja gern, aber woher nehme ich die Zeit?« Nun, Zeit gibts jetzt säckeweise. Ansonsten: Nichts machen. Alles machen. Wer Kinder im betreuungsfähigen Alter hat: Viel Vergnügen! Zeit für Bilderbücher, Kinderbücher, Jugendbücher. Gelegenheit für eine Alphabetisierungswelle, wie es seit Harry Potter keine gab.

Dankbar sein, falls man mit jemandem zusammen wohnt, mit dem sich eine Quarantäne aushalten lässt. Andernfalls: Zusehen, dass man die Zeit nutzt, um die Sache wieder ins Lot zu bringen. Nie hat es sich mehr gelohnt als jetzt. Wie sich überhaupt ganz unerhörte Kategorien der Liebesbezeugung entwickeln: »Mit dir könnte ich eine Quarantäne überstehen« ist das neue Pferdestehlen.

Gerade erst meldeten die Nachrichten, dass Beteigeuze, der Schulterstern des Sternbilds Orion, kurz davor stehe, erst zu explodieren und anschließend zu verglühen. In einer Mischung aus vorweggenommener Nostalgie und bewegungslosem Katastrophentourismus schauten wir damals hoch, um Abschied zu nehmen, und warteten auf den großen Knall. Wenn man heute nächtens (zur Vermeidung sozialer Interaktion) aus dem Haus geht und hinaufschaut, strahlt Orions Schulter ebenso ruhig und unbeirrt wie eh und je, während man selbst sich hier unten so nah am Verglühen fühlt wie lang nicht mehr.

Wie selbstverständlich wir darauf gesetzt haben, dass schon alles gut gehen wird. Das tut es nun nicht. Was jetzt hilft: Sich vor Augen führen, dass unablässig mehr und mehr Menschen genesen. Und jeder Genesene ist ein kleines Bollwerk gegen die Pest.

Währenddessen finden die ersten Geburtstagspartys per Videokonferenz statt – es kann nicht mehr lange dauern, bis Programmupdates die Funktionen »Luftschlange werfen« und »Topfschlagen« enthalten. Was sonst zu tun ist: Virtuelle Lesekreise gründen. Onlinescrabble durchspielen. Vogelstimmen lernen. Nudelrezepte tauschen. Bei den Buchhandlungen vorbeischauen, ob sie noch geöffnet haben. Wenn ja: Freude zeigen. Wenn nein: einen kleinen Schaufensterbummel auf ihren Onlineseiten unternehmen (immerhin zahlen sie die Steuern für all die Rettungsdienste, Rettungswesten, Rettungsschirme) und etwas mitnehmen – die Bücher der daheimbleibenden Autoren, die Fachbücher für Ornithologie oder die längst geschriebenen Quarantäneromane.

Was wird die Zukunft bringen? Bleibende Hautprobleme an den Händen. Horrorromane mit sich über Videokonferenzen verbreitenden Viren. Einen Niedergang der Pastaindustrie, weil auf Jahre hinaus alle genug Nudeln zu Hause haben. Und hoffentlich den Transfer unserer neuen Entschiedenheit auf die Herausforderungen des Klimawandels.
Was wir bis dahin schon mal machen können: Vorfreude entwickeln. Auf alles, was wir vermisst haben (Nähe, Reisen, Sorglosigkeit) und auf alles, was wir bislang in all seiner Schönheit noch gar nicht richtig schätzen konnten (Hände schütteln, überfüllte Konferenzen, überfüllte U-Bahn-Waggons, Alltag).

Es gibt viele einzelne gute Gründe, warum es Menschen in dieser Zeit schlechter geht als vorher. Das sind großartige Zeiten für Gemeinsinn. Wir werden uns an diese Wochen erinnern. Sorgen wir dafür, dass wir uns in guter Erinnerung behalten.