Iran

In Teheran, Lesereise. Meine Zweifel, ob irgendjemand sich hier für ein Buch über einen Grönlandreisenden interessieren würde, erweisen sich als unbegründet – Teheraner interessieren sich für alles: Überall in der Stadt eröffnen Galerien, Kulturinstitute, Ausstellungsräume, private Clubs, Lesecafés, bisweilen alles unter einem Dach. Oder oben drauf: Unter freiem Himmel sitzen wir auf dem Rooberoo-Dachgarten, nachts klart der Smog ein wenig auf und lässt den Mond erkennen. Ein Mann kommt an unseren Tisch und entführt einen nach dem anderen zu einer Theateraktion. Einzeln wird man in eine enge Box auf dem Innenhof gesperrt und bekommt übers Telefon Fragen gestellt: Welche Musik magst du, welche Filme, welche Nachrichten, welche Menschen – und auf einmal flattern Ausdrucke von Texten, die einem gefallen könnten, von der Decke, werden Lieder eingespielt, Bilder an die Wände projiziert. Zu guter Letzt baumelt plötzlich eine Kamera von der Decke und man skypt mit einer unbekannten Iranerin, die zu einem passen könnte. Ist Teheran das nächste Istanbul?

Das Artist’s Forum zeigt eine große Ausstellung iranischer Illustratoren. Einen von ihnen treffe ich Tage später zufällig im Café, Kambiz hat 25 Jahre lang in Deutschland gelebt und u.a. für die SZ gezeichnet. Es gibt exzellente, geradezu wohnliche Buchhandlungen, in den Regalen stehen zahlreiche Übersetzungen aus dem Deutschen (die Übersetzer sind wichtiger für den Erfolg eines Buches als die Autoren – und bekommen auch eine bessere Beteiligung). Immer ein schneller Blick, ob die Copyright-Zeile enthalten ist, ob die Ausgabe also autorisiert oder gemopst ist: Iran hat als eines der letzten Länder die Berner Übereinkunft nicht unterzeichnet. Erst vorletzte Woche interessierte sich ein Teheraner Verlag für eines unserer Bücher und winkte dann ab, sie hätten gerade gesehen, dass eine Übersetzung längst erschienen sei.
Keiner der Verleger, die ich treffe, hat ein Problem damit, Lizenzen legal zu erwerben, solange die Vorschüsse erträglich bleiben. Was ihnen wichtiger ist: Verständnis für ihren Umgang mit der Zensur – es fänden sich immer Wege, um zu vermeiden, dass Auflagen eingestampft werden müssen. Betrafen Verbote unter Ahmadinedschad vor allem politischen Themen, geht es unter Ruhani eher um Moral. Aber ihnen falle schon ein, wie man das Wort »Kuss« vermeide, John Banville zum Beispiel habe durchaus Gefallen gefunden an der Neuformulierung »She replied with the softness of her lips«. Im Allgemeinen werde aus jedem Wein einfach ein »Getränk« und aus jeder Bar ein »Café«, das gehe schon. Nur bisweilen trägt es seltsame Früchte. Lieblingsfall: Kommt ein Mann ins Café und bestellt eine Milch. Fragt der Kellner: »Rote Milch oder weiße Milch?«

Für die Zensur zuständig ist das Ministerium für Kultur und islamische Führung. Einen Orwellscheren Ort habe ich noch nicht gesehen. Er liegt inmitten einer parkähnlichen Anlage, auf dem Hügel weht die riesige schwarze Flagge des Trauermonats Muharram. Im Inneren des Gebäudes eine etwas lieblose Architektur der Macht. Starrer Austausch starrer Höflichkeiten. Vor jedem Gesprächsteilnehmer steht ein Kuchenteller und bleibt unberührt. Sie bieten sich als Vermittler an, das sei viel praktischer. Und hätte gleichzeitig den Vorteil, dass wir damit vor Raubkopien geschützt wären – ob das nicht auch in unserem Interesse sei? Es lässt einen frösteln.

Zahlreiche Anlässe für Abkehr: die Davidstern-Fliegenklatschen-Propagandaplakate, die Feier des Märtyrertums. Im Alltag am unerträglichsten ist die Apartheid der Geschlechter. In der Metro gibt es eigene Frauenwagen, die Stadtbusse werden mittig durch eine Absperrung aus Plastik geteilt: Vorn die Frauen, hinten Männer. Wo ist Rosa Parks? Die Vorschriften werden schleichend aufgeweicht, im Bus stehen die Paare in der Mitte und plaudern über die Trennung hinweg, hier und da rutscht ein Schleier im Gespräch nach hinten. Aber jeder weiß, dass die Sittenwächter zurückkehren können, die Auslegung jederzeit wieder enger werden kann. Auch darum wandern so viele aus. Letztes Jahr zeigten sich Männer aus Solidarität im Hijab, man bekommt Lust, es ihnen gleich zu tun. Das einzige gänzlich unverschleierte öffentliche Frauenhaar der vergangenen Tage war die alte Limonadenwerbung im Bild.

Meine iranische Begleitung, wie sie nach der Uni-Lesung dem Germanistikprofessor die Hand zum Abschied hinhält. Im ersten Impuls hebt auch er den Arm, als hätte sich im jahrhundertealten Prozess der Zivilisation ein körperlicher Reflex ausgebildet. Dann sickert in sein Bewusstsein, wo er steht (auf der Straße vor seiner Fakultät, mitten auf dem Campus) und was er riskiert, wenn er diese Hand ergreift (dass er gesehen wird, dass er Ärger bekommt, dass er seine Stellung gefährdet, einfach weil er eine Frau berührt) – erschrocken zieht er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Und für einen Moment bleibt ihre Geste noch in der Luft stehen, auf diesem staubigen Parkplatz, nutzlos und verquer, ein Mahnmal für den ganzen Blödsinn der Welt.

Ansonsten: Die vielen Stunden im Stau. Die charakterstarken Schaufensterpuppen. Wie selbstironisch die Iraner sich über Taarof mokieren, ihre zeremoniell überhöhte Gastfreundschaft – selbst die Taxifahrer weisen am Fahrtziel jede Idee einer Bezahlung zunächst weit von sich. Der Marmorboden im Parkhaus. Bei der letzten Lesung wird die persische Übersetzung von Filmstar Saber Abar vorgetragen, ein Großteil der Zuschauer ist vor allem gekommen, um nachher ein Selfie mit ihm zu machen. Die schönen Buchstaben (der Smiley des Te, das Zyklopenlächeln des Nun). Die Freundlichkeit und was für eine Erleichterung daraus entspringt. Der goldene Pfauenschwanz aus Licht in der Kuppel der Sheikh-Lotfollah-Moschee. Ich komme wieder.