Walnüsse

Auf die Frage, wie es ihr geht, sagt meine Mutter immer gut. Eben rief ich an und zum ersten Mal seit Jahren zögerte sie dabei. Das sei eine längere Geschichte. 
Ich habe Zeit.
Wahrscheinlich habe sie mir nie von ihm erzählt. Aber es gebe da diesen Nachbarn, mit dem sie auch im Tanzkurz sei. Er sei schon etwas älter. Und er habe halt diese besondere Leidenschaft.
Welche Leidenschaft?
Da müsse sie etwas ausholen. Und dann erzählt sie, dass er Walnüsse zum Keimen bringt. Mit den Setzlingen ziehe er los und pflanze sie ein. Am Fluss, im Park, am See. Letztes Jahr seien es fünfundzwanzig gewesen und dieses Jahr noch einmal fünfundzwanzig. 
Was für eine schöne Leidenschaft, sage ich. 
Nur sei es in diesem Sommer so trocken gewesen, dass die Walnussbäumchen kaum überlebten. Deshalb sei er immer los, mit Wasserflaschen im Fahrradkorb, und habe sie gegossen. Fünfundzwanzig am einen Tag, fünfundzwanzig am anderen. Jeden Abend ein paar Stunden. Seit einer Weile habe sie ihn begleitet. Inzwischen kenne sie die Wege schon auswendig.
Und warum wolltest du nicht sagen, wie es dir geht?
Jetzt habe die Tanzlehrerin angerufen, ob sie mal in seiner Wohnung nach ihm schauen könne, er gehe nicht ans Telefon. Sie habe nachgeschaut und ihn gefunden. Und jetzt sei sie traurig. 
Aber, sagt sie, immerhin hat er jetzt fünfzig Trauerbäume, an denen man an ihn denken kann. Und die man weiter gießen muss. Und eines Tages werden sie Walnüsse tragen.