Ich habe mir immer Mühe gegeben, nicht abergläubisch zu sein. Aber die Bücher machen es einem nicht leicht:
Schreibe einen Roman über Amelia Earhart, die beim Versuch, als erster Mensch um die Welt zu fliegen, spurlos verschwand. Gerade als ich mit dem Manuskript fertig bin, wird gemeldet, man habe auf dem Grund des Pazifiks etwas entdeckt, das aussieht wie ihr Wrack, und bereite nun einen Tauchroboter vor.
Als das Buch in Druck geht, googele ich im Überschwang die ISBN: 978-3-328-60379-5. Und finde ein einziges Suchergebnis. Was soll man dazu sagen?
1911 notierte Franz Kafka im Tagebuch: »Das Bewußtsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar. Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben was ich nur will.«
Dies sei unser Motto fürs neue Jahr.
Wir müssen reden. Leider bin ich momentan schlecht erreichbar. Aber das wissen Sie ja selbst.
Erst waren Tiere im Gleis. Dann waren Menschen im Gleis. Jetzt ist ein Feuer im Gleis. Wir stehen am Bahnhof Wattenscheid und haben bislang drei Stunden Verspätung. Wenn es so weitergeht, erwarten uns im Gleis noch Frösche, Schwarze Blattern, Hagel, Heuschrecken, Finsternis und der Tod aller Erstgeborenen. Zudem Einhörner.
Neben mir ein junger Mann, der seit Mannheim offenbar sogenannte Achtsamkeitsübungen macht. Mit geschlossenen Augen hechelt er rhythmisch, bricht dann in ein großes Seufzen aus, gefolgt von zärtlich unterdrücktem Gurren. Anschließend wedelt er wild mit den Armen, haucht eine Weile lang wie nach einer umfassenden Erleichterung, hält kurz (leider) die Luft an, um sie gleich darauf in einem riesigen Schwall wieder auszustoßen, zappelt mit Schultern und Beinen, saugt tief die Luft ein und stöhnt sie in einer gewaltigen Explosion wieder aus. Zu ganz neuen Formen der Achtsamkeit verhilft das vor allem uns Mitreisenden. Was soll ich tun?
- Fahrkartenkontrolle antäuschen
- Mit einem der Hämmerchen die Scheibe einschlagen (Frischluftzufuhr)
- Ihm die Zunge ins Ohr stecken (Paradoxe Intervention)
- Geburtshilfe anbieten
(Er ist dann in Karlsruhe raus. Klar. Hätte mir denken können, dass das alles eine Vorbereitung auf Karlsruhe ist.)
Gute Schreiborte zeichnet aus, dass sich am Ende des Tages die Milchstraße zeigt.
Erstes Sommerfest nach C. Es gibt Eis, gegrillte Melonen und Vorkrisenmusik. Nachts – inzwischen tanzt der komplette Verlagsgarten – zupft mich etwas am Ärmel. Zwei Polizisten. Ob ich eine Ahnung hätte, warum sie da seien.
Ich (leicht nach Worten ringend): »Aus Lärmschutzgründen?«
Sie (leicht amüsiert): »So in der Art.«
Ich: »Wie kann ich helfen?«
Sie: »Sie kennen ja Bogenhausen. In anderen Vierteln wäre das den Leuten egal. Aber hier versammelt sich eine gewisse wirtschaftliche Macht. Die Leute zahlen Steuern und erwarten dafür, dass es still ist. Wir werden von Anrufen geflutet. Man hört Sie bis in die Mauerkircher Straße. In die Pienzenauer. Bis zum Herkomer Platz. Sogar die Konsulate haben angerufen.«
Ich (leicht verzweifelt): »Aber wir haben allen Nachbarn weit und breit einen Brief eingeworfen, dass wir endlich mal wieder feiern wollen. Wir haben sogar jedem ein Buch dazugelegt.«
Sie (mit vorwurfsvollem Lächeln): »So viele Bücher können Sie gar nicht haben. Da müssten Sie schon ein Verlag sein.«
Ich denke mir das nicht aus.
Er: »PC-Artist?«
Ich: »I beg your pardon, Sir?«
Er: »PC-Artist?«
Der Herr am Eingang der Buchmesse Abu Dhabi will es wirklich wissen. Ich zögere. Von selbst hätte ich mich eher nicht als politisch korrekten Künstler beschrieben. Aber womöglich hat er ja recht. Manchmal fällt einem erst in der Ferne auf, wer man wirklich ist. Ich nicke vorsichtig. Er wollte dann aber nur meinen PCR-Test sehen.
Ich (dozierend): »Mithu Sanyals erstes Buch hieß Vulva.«
Buchhändlerin (murmelt): »Vagina.«
Ich (empört): »Das hieß Vulva! Das heißt ohnehin Vulva! Nicht Vagina!«
Buchhändlerin: »Ich sagte Wagenbach.«
70er Jahre: Laute Musik, flackernde Schreibtischlampe. Autor sitzt mit Bierflasche am Tischchen und liest bis tief in die Nacht Unverständliches, ohne aufzuschauen. Alle rauchen. Anschließend ungewollte Schwangerschaft.
80er Jahre: Lesung im Stehen, Pult mit rotem Samt bedeckt. Dazu Rotwein. Fragen aus dem Publikum sind weniger Fragen als allgemeine Statements zur Lage. Anschließend Trunkenheit & Tränen.
90er Jahre: Weißwein. Halbe Stunde Publikumsfragen, man erkundigt sich nach der Faktizität des Gehörten. Anschließend Hotelbar ohne bleibende Erinnerung.
00er Jahre: Zwei Wassergläser bleiben unberührt. Moderator befragt Autorin nach autobiografischem Hintergrund. Endlose Signierschlange. Sushi auf die Hand. Anschließend Minibar.
10er Jahre: Lesung findet aus Gründen des Audience Developments in Kleintierhandlung statt. Leider zur Paarungszeit, so dass es in den Käfigen zu Aktivitäten kommt. Moderator verfolgt das Geschehen zunehmend ungehemmt. Publikum tut es ihm gleich. Anschließend serviert Micro-Brewery frisch gezapftes Bier, was die allgemeine Erregung kaum dämpft. Abschied in zufälligen Paarungen.
20er Jahre: Kurz vor Beginn flüstert Moderatorin, ob sich die Lesung auf ein, zwei knappe Blöcke beschränken ließe. Publikum habe vermehrt Mühe mit der Konzentration. Stattdessen Gespräch über Hufeisentheorie, koloniales Erbe und ökologischen Fußabdruck von Lesereisen. Stimulierend ausfransende Gedankengänge, allerdings ist wegen der Masken nicht alles zu verstehen. Anschließend Nieselregen.
30er Jahre: Im Studio, die Kameraleute heißen Mo und Ivy. Auf Videowand spielen Avatare zentrale Szenen des Romans nach. Drei zugeschaltete {MOD} loben {AUT} für Frisur. Plauderei über Nahrungsergänzungsmittel, unterlegt mit Geräuschen von knackendem Lagerfeuer. Als »Tonprobe« genügt einzelner Satz aus Roman, dazu nachdenkliche Gesichter der {MOD}. Im Laufband Katastrophenmeldungen. Anschließend Voucher für Gastro-Automaten. Nachts auf dem Heimweg im Flugtaxi ein Tomatensaft, halb ausgetrunken.
Das neue Buch ist da: Eine Art Familie. Das Lesen setzt wieder ein. Und auch das Gelesenwerden. (Hier geht’s zu den Lesungsterminen. Und hier zu den Rezensionen).
Er war einer der unentdecktesten entdeckungswürdigen Schriftsteller unseres Landes. »Aus einem deutschen Zoo entfloh, im Jahr der vorgeschichtlichen Riesenschlange, die Frau des Zoodirektors, Richtung Ende der Welt. Und wo liegt dieses Ende? Wir wissen es noch nicht. Auch unsere Geschichte kommt zu spät.« So gewaltig wie schwermütig hebt Martin Klugers Roman Abwesende Tiere an, der zur Gänze im Berliner Zoo spielt. Fast zehn Jahre hat Kluger daran geschrieben, noch einmal so lange brauchte es, bis er für die tausend Seiten einen Verlag gefunden hatte. Da war es längst zu spät, um als junge Autorenhoffnung zu gelten. Das Buch gehört in den Kanon, in die Bibliothek dieses Landes, als eine unserer schönsten und traurigsten Geschichten. Die ersten Dutzend Seiten gilt es einfach einzuatmen, zu durchwandern, meinetwegen: zu überstehen. Sie sind reine Sprache. Danach öffnet sich das Erzählen und wird zu einem aberwitzigen, wahren Abbild einer Welt, in der man Angst haben kann. Zwischen all dem Krächzen und Schnattern der Tiere gibt es eine besonders eigenwillige Art zu bestaunen: den Menschen. Hier ist er ausgestellt vom Zoodirektor bis zum Vogelpfleger, als Exempel einer erstaunlichen Spezies.
Martin Kluger wurde 1948 geboren, als Sohn eines polnischen Juden, dem die Flucht nach London gelang und der nach dem Krieg Feuilletonchef des Tagesspiegel wurde, bis ihm der miserable Nachkriegsalkohol das Leben nahm. Da war der Sohn sieben Jahre alt. Er blieb Berliner, allen Ausflügen zum Trotz. Die führten nach Oberlin/Ohio zum Studium, nach Paris, wo er in Zeiten der Drehbucherfolge das Leben genoss, vor allem nach Uruguay, dem Sehnsuchtsort. Bis heute steht in der Biografie, er lebe in Berlin und Montevideo, dabei war letzteres vor allem ein Wunsch. So untrennbar Martin Kluger mit Berlin verbunden war, weite Teile der Stadt mied er, gerade im Osten, wo ihm ohne die Tünche des Nachkriegswestens die Überbleibsel der Reichshauptstadt ins Auge stachen. Einen einzigen Ort gab es, an dem er sich zu Hause fühlte: den Zoologischen Garten. Dort – »sprachlos vor den Tieren«, wie er einmal formulierte – kannte er jedes Geschöpf.
Er schrieb. Hörspiele. Werbetexte. Gemeinsam mit seiner Lebensfreundin Maureen Herzfeld entstanden Drehbücher, trotz allen Haderns mit der Fernsehproduktionswirklichkeit. Mit Heinz Sielmann schrieb er ein Zoo-Kinderbuch. Seine Säulenheiligen waren Iris Murdoch, Malcolm Lowry und Aidan Higgins, er übersetzte sie alle. Und Bücher schrieb er. Über den Roman Die Gehilfin mit der herrlichen Heldin Henrietta Mahlow, die in der Charité aufwächst, schrieb die ZEIT, Martin Kluger treibe seine Leser »bis an den Rand der Tränen«, und wollte damit einfach nur sagen, dass man beim Lesen halt andauernd heult. Er war ebenso für den Deutschen Buchpreis nominiert wie der nächste Roman, Der Vogel, der spazieren ging. Ist es trotzdem richtig, Kluger unentdeckt zu nennen? Obwohl ihm später der Bremer Literaturpreis umgehängt wurde? Mir kommt es so vor. Nehmen wir es als Einladung zum Lesen und Wiederlesen. Wer sich das 1000-Seiten-Monstrum noch aufheben will, starte mit dem Erzählband Der Koch, der nicht ganz richtig war. Auch dort fallen Glanz und Melancholie in eins, mit ewigen Sätzen: »Deine Mutter verließ viele Länder. Sie war die letzte große Länderverlasserin.«
Seine Dämonen waren immer bei ihm. Aber was für schöne Kostüme hat Martin Kluger ihnen geschneidert. Sie bevölkerten seine Bücher, seltsam und flackernd und immer auf der Flucht, die Krankenschwester, die morgens zur Arbeit schwimmt, die Bewohner Dahlems, die einsamen Vögel. Vor allem aber der Professor für Schmerzforschung, der in immer neuen Tarnungen und noms de guerre auftrat als Überlebender. Der Dinge verkündete, die keiner hören mochte – im Wesentlichen die simple Nachricht, dass der Schrecken kein Ende hat. Und bei aller Zuneigung, die man diesen Figuren entgegenbrachte, war immer klar, dass sie nur einen Hauch ihrer Geheimnisse zeigen.
Dass für Martin Kluger die Vergangenheit nicht vorüber war, brachte mit sich, dass ihm die Zukunft oft ungeheuerlich erschien. Als 2008 sein letztes Buch erschien, kündigte ich an, vom nächsten werde es neben der gedruckten Fassung auch eine digitale geben. Es war ihm unvorstellbar. Wir verabredeten eine Wette. Seither schrieb er an einem Roman, Playboy, der noch einmal alles wagen sollte. Sein Held Juri Tabac steigt aus den Trümmern des Krieges auf zu illustrem Ruhm, obwohl niemand weiß, woher er kam. Das Manuskript blieb unvollendet, unsere Wette haben wir beide verloren. Vorgestern ist Martin Kluger gestorben. Sein Tod lässt das Land nicht innehalten. Aber wenn die Tiere im Zoo in diesen Tagen ein wenig stiller schreien, wissen wir, woran es liegt.
(Mein Nachruf in der FAZ)