Die Literatur war immer gut darin, unseren Plänen zuvorzukommen – den Lebensplänen und den Leseplänen. Und auch unseren Vorstellungen von der Literatur selbst. Bevor wir ihr etwas vorschreiben konnten, hatte sie sich schon vorausgeschrieben. Sie ist nicht nur in dieser Hinsicht ein Schlingel. Ich fürchte daher, nicht wir haben darüber zu befinden, was Literatur wird. Wenn wir Literatur im glühenden Sinne meinen, dann zeichnet eben das sie ja aus: Dass sie Haken schlägt, uns voraus ist, überrascht. Dieser Literatur einen zukünftigen Zustand zu unterstellen führte so weit wie der Versuch, Ort und Impuls eines Quantenteilchens zugleich zu bestimmen. So weit wie die Frage, ob Schrödingers Katze noch atmet. Was die Literatur wird, wissen die Götter, und die lassen sich ungern über die Schulter sehen.

Wir können allerdings bestimmen, was für uns selbst zu Literatur wird: Wir wählen aus. Als Verlag, als Rezensent, als Leser. Auch wer nicht selbst schreibt, prägt so die Möglichkeiten der Literatur. Ob die sich darum schert?

These 1: Je stärker Literatur sich darum kümmert, was andere von ihr wollen, desto länger gerät sie. Um zu entführen, fremde Leben anzubieten, auf andere Gedanken zu bringen. Das ist in Ordnung. Wir schätzen das seit Jahrhunderten. Und bei aller Lust am Neuen: Bewährtes kann man ruhig bewahren. Auf Papier zum Beispiel, zum ruhigen Lesen gibt es nichts Besseres.

These 2: Je weniger Literatur sich darum kümmert, was andere von ihr wollen, desto kürzer gerät sie. Weil unser Leben immer geschnipselter wird, der Takt der Wahrnehmungen kürzer. Das ist schon länger so, aber selbst die Akzeleration nimmt an Geschwindigkeit zu. Tatsächlich sehen wir ein Wiedererstarken des Flaneurs, des Meisters der Zusammenhanglosigkeit. Die kurze epische Form, über Jahrzehnte eingesponnen in Kleinstkokons, in Nischen gebettet, traut sich zurück auf die Straße. Das führt eher zur Intervention als zur Eskapade, es wird vielstimmig, flirrend. Eher ein Schwarm Bienen als ein einzelner Bär. Zu dieser Kürze gehört, dass man sie zwischendurch liest, unterwegs. Auf dem Bildschirm, zum schnellen Lesen gibt es nichts Besseres.

Mit dieser Janusköpfigkeit künftiger Literatur müssen, können, werden wir leben.

 

Zum Festival Was wird Literatur am Literaturhaus Graz