(Vortrag neulich im virtuellen Marbach)
Wer von Literaturarchiven spricht, spricht von Ordnung. Das einzelne Dokument mag unordentlich sein – und soll es womöglich auch, immerhin geht es um Literatur. Als Ganzes aber, als System gehört zum Archiv die Auffindbarkeit. Struktur ist sein Daseinszweck.
Dafür braucht es Kategorien. Wir können nicht ohne sie, im Archiv wie im restlichen Dasein. Sie bieten unserem Leben ein Gerüst, dem Denken und dem Handeln. Sie halten uns in Ordnung und ermöglichen überhaupt erst Vorstellungen. Sie erzeugen Vorurteile, ohne die das Überleben im Alltag nicht möglich wäre. Daran wird deutlich: Sie engen uns auch ein.
Denn Kategorien beschränken unsere Vorstellungskraft, sie rastern unsere Imagination. Nicht anders die Ordnungssysteme der Buchwelt, die Kategorien von Buchhandlungen, Büchereien, Onlineversendern – oder eben Literaturarchiven.
Und nicht zuletzt von Verlagen. Auch wir sind Gefangene unserer Kategorien. Ein zufälliges Beispiel: Das Buch selbst scheint ein neutrales Gefäß zu sein. Lässt sich etwa nicht reinschreiben, was immer man will? Erstaunlicherweise: Nein. Als Gegenstand entwickelt das Buch Eigenlogiken, die Kollateraleffekte auf den Inhalt haben. Und damit auch auf die Literatur. Welche Erwartungen habe ich an ein Buch, was verspricht es mir, was verspreche ich mir von ihm? Ganz konkret: Welches Format und welches Gewicht liegen gut in der Hand? Wie viel Text passt auf eine Seite und in welchem Satzspiegel? Wir haben noch immer die Kolumnenschnüre aus Bleisatzzeiten im Kopf. Wie dünn kann ein Buch werden, um für die Warenströme des Handels noch relevant zu sein? Oder wie dick? Welcher Ladenpreis ergibt sich und ist er an der berühmten Ladenkasse durchsetzbar? Unsere Vorstellungen vom bürgerlichen Roman hängen auch am Format Buch. Oder nehmen Sie die Gattung Erzählung: In freier Wildbahn tritt sie fast nur im Plural auf, als Erzählungsband, als gäbe es Storys nur im Dutzend, als Verpackungseinheit. Auch das liegt ebenso an den Gegebenheiten vom Buch als Objekt, das einen gewissen Umfang verlangt, wie am Buchmarkt, der Erwartungen hat an die Verkaufseinheit Buch und ihren Preis. Für ein Zehn-Seiten-Heftchen schlage ich doch keine Verlagsvorschau auf.
Wenn wir daher über die Öffnung von Literaturformen sprechen, über die Auflösung des Literaturbegriffs, über nicht länger fixe Gattungskonzepte und das Verschwinden eines geordneten Kanons, dann sprechen wir nicht zuletzt über die Auflösung von Kategorien. Das betrifft das Ausfransen der Literatur an den Rändern, im momenthaften Aufleuchten eines Spoken-Poetry-Abends, in fluiden Hybridformen des Digitalen, im Flackern der sozialen Medien. Aber es betrifft sie auch in ihrem sogenannten Zentrum, wo alles noch ganz vertraut und sicher scheint, wo sich glauben lässt, alles sei vollkommen stabil und gesetzt und rolle unbeirrbar Richtung Ewigkeit. Nichts da. Die Kategorien der Literatur lösen sich auf in ihrem innersten Kern.
Was steht im Zentrum dieses Systems? Wir Verlage ordnen unsere Programme entlang einiger zu Kategorien geronnener Erwartungen, denen wir nicht entkommen. Das betrifft Gattungen, Genres, irgendwelche hirngespinstigen Zielgruppen. Für einen Publikumsverlag, wie wir einer sind, ist die wichtigste dieser Unterscheidungen die zwischen Literatur und Sachbuch. Was eine zufällige Paarung sein könnte, eine Nachbarschaft, erleben wir als Gegensatz. Die Dualität prägt unsere Arbeit so fundamental, dass wir sie kaum mehr bemerken.
Wir beschäftigen eigene Lektorate für Sachbuch und Literatur (mit jeweils eigenen Sprech- und Dresscodes). Wir produzieren eigene, sauber getrennte Vorschauen. Größere Buchhandlungen präsentieren die Bücher auf jeweils eigenen Stockwerken. Es gibt getrennte Rezensionsbeilagen und eigene Preisjurys. Ich verrate Ihnen nach dieser langen, durchsichtigen Herleitung allmählich kein Geheimnis mehr, wenn ich sage: Es gibt das alles nicht. Ceci n’est pas un roman. There is no such thing as non fiction. Das ist alles nur in deinem Kopf.
Oder zumindest gibt es den Unterschied nicht, die Demarkationslinie. Und die Nichtexistenz dieser Grenze nimmt an Intensität zu.
Uns jedenfalls gelingt es immer weniger, die Bücher sauber einzuordnen. Das ist ein echtes, lebensnahes Problem. Für einen stetig wachsenden Teil des Programms gilt: es steht zwischen den Stühlen. Um nur einige Autorinnen aus den eigenen Programmen der letzten Zeit zu nennen: Dorothee Elmiger, Maggie Nelson, Eula Biss, Leslie Jamison, Lisa Olstein. Und wir sitzen in unseren Programmrunden und haben keinen Schimmer, in welchen Topf sie gehören.
Und so bilden sich allmählich zwischen fiction and non-fiction neue Formen, eine Art drittes Geschlecht der Literatur. Als hors-sexe steht es nicht einfach neutral irgendwo im Raum zwischen den anderen, sondern als ein Eigenes. Was wir für Menschen gerade mühsam und ziemlich grimmig durchbuchstabieren, das Nonbinäre, die Identitäten und Nichtidentitäten, gelingt der Literatur ganz von selbst. Das sind Texte, die ein Thema umkreisen, aber starke erzählerische Elemente aufweisen. Sie argumentieren nicht von der Kanzel, sondern sind persönlich und subjektiv. Für die Autofiktion fehlt die Fiktion, für den Essay sind sie womöglich zu verletzlich. Sie werfen das eigene Ich mit ins Spiel, das zum Lackmusteststreifen eines Gedankens wird. Diese Texte treffen keine festen Aussagen, sondern erlauben eigene Erkenntnisbildung. Ihre Struktur ist assoziativ und mosaikförmig, sie nimmt Elemente des Digitalen auf und macht sie nutzbar. Es sind schöne, eigenartige Spaziergänge, die man beim Lesen unternimmt.
Niemand hat diese Bücher gerufen, am allerwenigsten wir sortiersüchtigen Institutionen. Sie waren einfach da und sind nicht wieder gegangen. Und jetzt müssen wir zusehen, wie wir unseren Systemen beibringen, sich zu öffnen.
Und so kehrt, zweihundert Jahre später, der Roman dahin zurück, wo alles anfing. Ins Nichtlineare, Unordentliche, Anregende. Kein schlechter Ort.