Proust und das liebste Stück

Rückfahrt. Die Traurigkeit von Rückfahrten. Hinterm Deister kommt kurz die Sonne heraus, aber wer will sich so spät im Jahr noch daran gewöhnen. Dann wieder kilometerweit nur Media Märkte. Kurz vor Kassel-Wilhelmshöhe die Nachricht, in Amerika sei ein unentdecktes Manuskript von Marcel Proust entdeckt worden. Ein Mirakel. Es gehe, halten Sie sich fest, um Onanie. Sofort rote Ohren bekommen, rote Wangen. Das Manuskript sei in einer University Press erschienen, sorgfältig kommentiert, und werde jetzt ins Französische übersetzt. Was für eine herrliche Aufgabe muss das sein. Sollte ich jemals Übersetzer werden, möchte ich Proust ins Französische übersetzen. Leider erweist sich die Nachricht – Hände wieder über die Bettdecke! – als Hoax. Ein Hoax ist das, was früher eine Falschmeldung war, aber es ist weltläufig und riecht besser. So wie Kassel-Wilhelmshöhe das ist, was früher einmal Kassel war. Geruchloses, weltfreies Kassel. Zum Trost in der neuen Ausgabe des »Magazins der Deutschen Bahn« blättern. Das db mobil ist papiergewordene Atemnot, was diese Ausgabe besonders eindrucksvoll zum Ausdruck bringt, sie widmet sich der Nachhaltigkeit. Auf jeder zweiten Seite steht »db mobil – mein liebstes Stück Deutschland«: Wen überwältigte da nicht auf einmal eine existentielle Sehnsucht nach Kassel? »Kassel, Ursprung Deutschlands und sein liebstes Stück« – was hätte Proust zu einem solchen Werbespruch gesagt? Das Wirken der Gebrüder Grimm nahm hier seinen Ausgang und (wenn dem Blick aus dem Fenster zu trauen ist) die Media Märkte ebenfalls. »Hier muss ein Nest sein« – ein anderer möglicher Kassel-Claim. Aber zurück zum db mobil: Nachhaltigkeit beweist man offenbar durch besonders »haptisches« Umschlagpapier, das, weil es vor allem dick ist, am Ende einfach ein paar Bäume mehr verbraucht. Gestern schrieben Freunde aus Kalkutta in einer anderen Sache, sie seien »haptic to share«, aber meine Freude über die Umnutzung des Wortes erstarb beim Begreifen des Missverständnisses. Was für eine traurige Welt, in der Autokorrekturen nicht einmal mehr das Wort »happy« erkennen. Ich schweife ab. Erneute Ermahnung, es endlich mit dem db mobil aufzunehmen: Unter der Überschrift »Drei Fragen an Jürgen Vogel« bekommt Jürgen Vogel drei Fragen gestellt. Man stelle sich vor, die Brüder Grimm würden ihre Märchen heute herausbringen (sicherheitshalber auf haptischem Papier). Wahrscheinlich würde die gute Fee darin sagen: »Du hast drei Fragen frei.« Vogel also, Weltewigkeitsversteher Vogel. Auf die Frage, wie es war, zuletzt den Urzeitmenschen Ötzi zu spielen (»Wie tief mussten Sie für diese Rolle in sich gehen?«), antwortet er in bewundernswerter Allzeitmensch-Gewissheit: »Vor 5000 Jahren war alles existentiell. Wie es Ötzi erging, kann man daher gut erahnen. Mir ging das jedenfalls so.« Sollte ich jemals Schauspieler werden, würde ich darum bitten, einmal die Existentialität spielen zu dürfen, in einer Nebenrolle. Im Artikel auf der Seite gegenüber steht, dass der Deutsche 24 Jahre lang schläft. Dann will ich das mal tun. Wir sehen uns später.